Sarrazin-Restbestand aus dem letzten Jahr

Da der demogogische Dreck vom letzten Jahr leider nicht mit dem Jahreswechsel weg geht, noch mal was zum beliebtesten "Man-wird-ja-noch-sagen-dürfen"-Sager und erfolgreichsten Buchverkäufer des vergangenen Jahres. Sarrazins Beliebtheit zeigt übrigens wieder einmal, dass "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" keine Spezialität von "Extremisten" ist.

Es geht dabei meiner Ansicht nach längst nicht mehr um Fakten beziehungsweise inhaltlich nachprüfbare Tatsachenbehauptungen. Was inhaltlich von diesen Thesen zu halten ist, nimmt das von der Politologin Naika Foroutan herausgegebene Dossier Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand gründlich auseinander.
Ich stimme Jakob Augstein ausdrücklich zu, wenn er in Sarrazin und Lügen zu Weihnachten – Nachtrag schreibt:
Also hier noch einmal mein Hinweis: Es geht mir nicht einmal in erster Linie darum nachzuweisen, wo Thilo Sarrazin irrt. Es geht mir darum, wie auch schon im Weihnachtsblog, darauf aufmerksam zu machen, dass seine Behauptung, er stelle unwidersprochene und unwiderlegbare Tatsachen dar, falsch ist. Sarrazin handelt mit Thesen. Nicht mit Fakten. Es ist eine Technik des Demagogen, die Grenzen dazwischen verschwimmen zu lassen.
Ich bin mir dabei aber ziemlich sicher, dass Sarrazin nicht so selbstbewußt und selbstgerecht sozialdarwinistische und kulturalistische und quasi-rassistische Thesen in die Welt setzen würde, wenn er nicht das Gefühl hätte, sich dabei auf das Urteil von Experten stützen zu können. Wobei das Urteil, sprich die Thesen der Experten, z. B. im Falle Heinsohns, auch aus zur These passend zurechfrisierten Daten beruht.

Wie ich an anderer Stelle schon schrob, geht es meiner Ansicht nach bei dem ganzen Zirkus Sarrazini nur der Provokation halber z. B. um "Gene" bzw. "Intelligenzunterschiede bei unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen".
Der Kern der sarrazinischen Weltsicht ist: Der Wert eines Menschen hängt von seiner Nützlichkeit ab.
"Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen". Sagte ja auch Münte, einen gefälschten Paulus-Brief zitierend, und sich auf die sozialdemokratische Tradition, sprich August Bebel berufend (nicht ganz zurecht, nicht ganz ehrlich übrigens). Dachte auch Peter Hartz. Daher bin ich nicht überrascht, wie viele Sarrazin-Fans es an der SPD-Basis gibt.
Ich fasse Sarrazins Kernthese mal so zusammen:
Deutschland braucht mehr Hochleistungs-Nutzmenschen, notfalls durch Einwanderung, das ist eben effizienter, als mühsam den sich kanikelhaft vermehrenden degenerierten Unterschicht-Kindern Bildung beizupulen. Wobei man das ja auch nicht ganz lassen sollte, weshalb Sarrazin ja auch für Kindergarten-Pflicht, Ganztagsschule, Schuluniformen, ordentlich Disziplin und harte Strafe für Bildungsverweigerer ist. Und überhaupt: es ist mega-wichtig, eventuell doch talentierte Unterschicht-Kinder den Einfluss ihrer leistungsverweigernden Eltern zu entziehen. Am Besten schon ab Krippenalter!

Da ja Kritiker der Sarrazinische Thesen gern mit dem Hinweis abgebügelt werden, man müsse Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" gelesen haben, dann würde einem schon klar werden, dass er auf solider Faktenbasis argumentieren würde, hatte ich mir "den Sarrazin" mal angetan (übrigens als ein ausgeliehenes Exemplar).

Sarrazin gibt zuerst "einen Blick in die Zukunft" (so das erste Kapitel). Er entwickelt ein Schreckens-Szenario, wie es ähnlich schon viele andere Kulturpessimisten aufgemacht haben: Er zeichnet das Bild eines überalterten Landes, das nicht mehr weiß, wie es seine Rentner durchfüttern soll. (Das kann man diskutieren, sollte dabei aber auch nicht Tatsachen wie Produktivitätsentwicklung / Automatisierung außer acht lassen.)
Das zweite Kapitel übernimmt Sarrazin inhaltlich fast 1 : 1 von
Gunnar Heinsohn: In Deutschland würden überdurchschnittlich viele Kinder in sogenannten bildungsfernen Schichten mit häufig unterdurchschnittlicher Intelligenz aufwachsen.
Sarrazin legt dann seine Ansichten zu Armut und Arbeit dar.
Bemerkenswert erscheint mir, dass er viele Begleiterscheinungen der materiellen Armut, wie mangelnde Gesundheit und fehlerhafte Ernährung, nicht auf einen Mangel an Einkommen zurückführt. (Damit bleibt er seiner Linie als Berliner Finanzsenator treu, wo er vorrechnete, wie sich ein ALG 2 Empfänger sich für - ich weiß nicht mehr wie wenig Euro - gesund ernähren könnte.) Wer intelligent und gebildet ist, könne auch haushalten, setzte die Prioritäten richtig, komme irgendwie auch ziemlich flott aus der Misere raus. Wer dumm ist, bliebe arm. (Das ist jetzt meine polemische Zusammenfassung.) Sarrazin behauptet, 90 Prozent der von der Armutsforschung beobachtete negativen Auswirkungen seien nicht Folgen von Einkommensarmut, sondern deren Begleiterscheinungen, die aber dieselben Ursachen hätten wie die Einkommensarmut. Zugespitzt: "Wer arm ist, ist (wenn nicht gerade krank oder von Unglücksfällen heimgesucht) selbst daran schuld." Ganz auf Linie der "Agenda 20-10" ist für ihn das wichtigste, Menschen in Arbeit zu bringen (egal welche, egal unter welchen Bedingungen, egal, wie bezahlt), denn die Abhängigkeit von staatlichen Transfers verschärfe das Problem von mangelndem Antrieb und Selbstwertgefühl.
Sarrazin ist Anhänger einer verpflichtenden Gegenleistung von Transferempfängern (durchaus im Sinne von "wer Hartz IV kriegt, soll dafür Schnee schippen"). Das sei entscheidend für die Aktivierungsfähigkeit der Menschen. Das alles ist meiner Ansicht nach Sozialdarwinismus, der aber gut "sozialdemokratisch" verkleidet und mit einer protestantisch-calvinistischen Moral überzogen ist. (Sarrazin ist tatsächlich reformierter Christ und stammt aus einer Hugenottenfamlie, es würde also passen. Ich vermute, dass seine religiöse Ausrichtung bei seiner Auseinandersetzung mit dem Islam wichtig sein könnte.)
Dann folgen einige Kapitel zum Thema "Bildung".
Sarrazin geht (sowie ich ihn verstehe) davon aus, dass das Bildungssystem einen optimalen Beitrag zum Funktionieren von Wirtschaft und Gesellschaft leisten soll.
Interessant wird es beim, laut Sarrazin, "Kernproblem": dem Umgang mit den "Bildungsfernen". Sarrazin Vorschläge laufen darauf hinaus, diese "Problemgruppe" stark zu überwachen und zu gängeln. Sarrazin ist für Kita-Pflicht, Ganztagsschulen usw. . Mir fällt dabei auf, wie konservativ Sarrazins Vorstellungen von Kindererziehung sind: Fernsehen und andere moderne Medien solle es in Kitas nicht geben, und zu den Freizeitangeboten der Ganztagsschule gehören ausdrücklich kein Fernsehen und keine Computerspiele. Um ein Übermaß an Medienkonsum zu unterbinden, sollen zumindest größere Kinder nur das Wochenende und den Feierabend zu Hause verbringen. Ja, und für Schuluniformen, mehr Disziplin, "Schluss mit Lustig" usw., harte Strafen für "Schulverweigerer" ist Sarrazin natürlich auch.
Erst jetzt kommt das Kapitel, um das es fast immer geht, wenn über Sarrazin diskutiert wird: Zuwanderung und Migration. Die Inhalte dürfte, nach über einem halben Jahr, den meisten Mediennutzern in groben Zügen bekannt sein, bis auf zwei Forderungen, die nach meinem Eindruck von seinen Anhängern gern verschwiegen werden: Er ist für Geldstrafen für die Beherbergung Illegaler Einwanderer, und für eine zentrale bundesweite Datenbank für alle Einwohner, die nicht die deutsche Staatsbürgerschaft haben.
Richtig heftig wird es im letzten Kapitel: "Demografie und Bevölkerung". Er behautet, dass Zuwanderung keine Lösung für Deutschland sei, und dass die Nettoreproduktionsrate angehoben werden müsse. Daher will er u. A. die Fortpflanzungsbereitschaft gebildeter Frauen erhöhen. (Hier ist er wieder sehr nahe bei Heinsohn.)

Nicht alles, was Sarrazin schreibt, ist von vornherein nicht diskussionswürdig, daran ändert auch sein "kreativer" Umgang mit Statistiken nichts, denn es geht um Thesen, nicht um Fakten. Die Zahlen dienen nur der argumentativen Verstärkung, bestätigen, was er schon vorher "wusste". Er schwimmt mit vielen seiner Ansichten im medialen Mainstream, weshalb sie auch wenig Aufsehen erregen. Selbst der Inhalt seiner Provokationen trifft auf "in der Mitte der Gesellschaft" weit verbreitet Vorstellungen und Vorurteile.
Interessanter ist meiner Ansicht, wie Sarrazin "tickt", welche Denkstrukturen hinter seinen Thesen stehen.
Er schätzt einen asketischen Lebensstil, Disziplin und Fleiß sehr hoch ein, und bewertet das durchaus moralisch.
Anderseits habe ich den Eindruck, dass er nicht aus der Perspektive eines "reichen Oberschichtlers" oder eines "arroganten Bildungsbürger" denkt, auch wenn er faktisch die Position der materiell Privilegierten verteidigt. Er ist, und das ist das Erschreckende, durchaus ein "alter Sozi": Nur die Arbeit verleiht dem Leben Sinn, Arbeit über alles, Arbeit adelt, wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen und wie die ganzen gegen das "Lumpenproletariat" gerichteten Sprüche lauten. Wie viele "alte Sozis" denkt er völlig von der Ökonomie her. Dass er Wasser auf die Mühlen knallharter Kapitalisten lenkt, vor allem der Bezieher leistungsloser Einkommen aus Kapitalverzinsung (die der olle Bebel so auf dem Kieker hatte), scheint ihm egal zu sein.

Sarrazin spricht einige meiner Ansicht nach durchaus reale Probleme an. Aber das haben andere vor ihm schon besser gemacht: Was an Sarrazins "Deutschland schafft sich ab" richtig und gut ist, ist nicht neu, und was an ihm neu ist, ist Sozialdarwinismus, halbgarer Biologismus und Hetze pur!

Was gerade "alten Sozis", sogar denen vom rechten Flügel, auffallen sollten, und was jeder Anhänger(in) der "christlichen Soziallehre" eigentlich über aufstoßen müsste, ist, dass die Ungleichheits-Diskurse, die von Sarrazins Thesen angestoßen wurde, vor den wirklich destruktiven Ungleichheiten unserer Gesellschaft ablenken: die sind ökonomischer Natur, nicht etwa biologischer, ethnischer, religiöser oder kultureller Art. Diese ökonomische Ungleichheit führt zurück in eine ganz altmodische Klassengesellschaft. Es erstaunt mich, dass durch und durch ökonomistisch denkende Menschen wie Sarrazin oder Heinsohn ausgerechnet hier einen "blinden Fleck" haben. Oder ideologische Scheuklappen.

"Ökonomische Natur" heißt nicht, dass es allein ums Geld ginge. Nicht allein, denn die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Eltern entscheiden in Deutschland mehr als in den meisten anderen europäischen Staaten über Chancen und Möglichkeiten der Kinder. Nicht "wer dumm ist, bleibt arm", sondern "wer arm ist bleibt dumm". Es geht vor allem um die unterschiedliche Verfügbarkeit von materiellen Möglichkeiten - das muss kein eigenes Vermögen sein - und vor allem auch um Privilegien. Wer irgendwie zu Geld gekommen ist, gehört nicht automatisch "dazu". Die "Oberklasse" fürchtet Aufsteiger: "Türkische Gemüsehändler" sind, trotz Fleiß und auch wenn sie es zu Wohlstand und Vermögen gebracht haben, nicht erwünscht.
Daher halte ich die "neue" Klassengesellschaft auch nicht für eine "notwendige" Begleiterscheinung des Kapitalismus. Die entsteht nicht von alleine, quasi naturgesetzlich, die wird gemacht. Auch mit Hilfe von Propagandisten wie Sarrazin.
Joy (Gast) - 7. Jan, 11:16

Sarrazin spricht einige meiner Ansicht nach durchaus reale Probleme an. Aber das haben andere vor ihm schon besser gemacht: Was an Sarrazins "Deutschland schafft sich ab" richtig und gut ist, ist nicht neu, und was an ihm neu ist, ist Sozialdarwinismus, halbgarer Biologismus und Hetze pur!

Das finde ich absolut treffend resümiert. Interessant finde ich auch, wie Du ja schriebst, dass er eigentlich von mehreren- und meiner Meinung nach- auch für mehrere Positionen schreibt. Jeder findet da so sein Eckchen, zu dem er "ja" sagen kann. Meines wäre die relativ medienfreie Erziehung in der frühen Kindheit....

Trotzdem oder grade deswegen sträuben sich mir die Haare ob des neuen Beigeschmacks, den man da liest...

MMarheinecke - 10. Jan, 16:53

Ja, der alte Trick:"Wer Vieles bringt, wird Manchem etwas bringen"

Beim näheren Hinsehen ist Sarrazins Linie dann aber doch nicht so "vielseitig anschlussfähig".
Die Idee einer relativ medienfreie Erziehung in der frühen Kindheit klingt auch für mich gut. Allerdings möchte er, wenn ich ihn richtig verstehe, auch Kinder und Jugendliche nach dem Grundschulalter so weit wie es nur irgend geht von den bösen modernen Medien fern halten. Er geht ja so weit, die Zeit außerhalb der Schule so weit wie möglich eingrenzen zu wollen, damit die Kinder nicht etwa Zuhause, bei ihren Eltern, fernsehen oder am Computer sitzen. Das entspricht z. B. überhaupt nicht der moderneren Waldorf-Pädagogik, in der die Vermittlung von Medienkompetenz ja durchaus eine Rolle spielt (von ganz "versteinerten" Waldorfschulen einmal abgesehen), und in der vor allem nicht gegen die Eltern erzogen wird.

Nachtrag; Offensichtlich unterrichtet seine Frau weitgehend nach den in "Deutschland schafft sich ab" skizzierten pädagogischen Grundsätzen:
Elternvertreter werfen der Grundschullehrerin Ursula Sarrazin einen autoritären Unterrichtsstil und verbale Ausfälle vor. Ein Elternsprecher ihrer Klasse habe sich bei der Schulaufsicht über die Pädagogin beschwert. Der Vorsitzende des Landeselternausschusses, Günter Peiritsch, sagte: "Kinder weinen, die Schüler werden gedemütigt und angeschrieen, wenn sie etwas nicht können. Frau Sarrazin unterrichtet nicht mit pädagogischer Professionalität.
Und ihr Mann bastelt derweil an Verschwörungstheorien: Sarrazin wettert gegen die Berliner Sippenhaft
Nemesis (Gast) - 16. Feb, 13:36

Sie können das Buch allenfalls überflogen haben

Sie schreiben:
"(Damit bleibt er seiner Linie als Berliner Finanzsenator treu, wo er vorrechnete, wie sich ein ALG 2 Empfänger sich für - ich weiß nicht mehr wie wenig Euro - gesund ernähren könnte.)"
Sarazzin rechnete beileibe nicht nur vor. Er beschreibt im Buch sein Experiment, in dem er sich mit 4,25 Euro pro Tag ausreichend und gesund ernährte.
Bitte erst gründlich lesen, dann kritisieren.

MMarheinecke - 16. Feb, 17:50

Gerade einmal drei Tage Selbstversuch

Ich habe das Buch einmal gelesen und jetzt nicht mehr vorliegen, da ich es nicht kaufen wollte.
Da der heroische Selbstversuch Sarrazins über gerade einmal drei Tage lief, nehme ich ihn einfach nicht ernst. Wenn der Versuch drei Monate gedauert hätte, hätte ich mir wahrscheinlich sogar die 4,25 Euro gemerkt.

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