"Neuer Kenntnisstand" - oder: ein Lehrstück zu lancierten Studien

Der Titel, unter dem "Heise" über einen bizarren Vorgang berichtet, kann man "sehr diplomatisch" nennen. Krebs-Studie: Mobilfunkkritiker räumt Fehler ein. Der "Fehler" liegt darin, dass Salzburger Mobilfunk- und WLAN-Gegner Dr. Gerd Oberfeld einen C-Netz-Sender, der angeblich zu einem erhöhten Krebsrisiko bei Anwohnern führte, einfach erfunden hat. Kein "Fehler", sondern eine Lüge.

Der Vorfall ist ebenso absurd wie bezeichnend: Dr. Gerd Oberfeld hatte Anfang diese Jahres eine Langzeitstudie (1984 bis 1997) veröffentlicht, die in österreichischen Medien mit Schlagzeilen wie "Handymasten verursachen Krebs" rezipiert wurde. In der Studie wurde ein erhöhtes Krebsrisiko bei Anwohnern einer österreichischen C-Netz-Mobilfunkanlage (NMT 450 MHz) festgestellt. Tatsächlich gab es an dem Standort aber gar keine Sendeanlage.

Die Mobilkom Austria forderte Oberfeld daher auf, seine Studie zurückzuziehen. Als er der Aufforderung nicht nachkam, klagte das Unternehmen. Noch vor der zweiten Verhandlung haben sich die Parteien nun verglichen. "Späte Einsicht: Dr. Gerd Oberfeld zieht Mobilfunk-Studie zurück", freut sich die Mobilkom in einer Mitteilung.
Doch Oberfeld widersprach gegenüber heise online dieser Darstellung: "Ich nehme zur Kenntnis, dass an dem Standort keine C-Netz-Anlage war." Jedoch ziehe er seine Studie nicht zurück, sondern werde sie "an den neuen Kenntnisstand anpassen."
Nun ist der Satz "Ich passe mich dem neuen Kenntnisstand an" im besten Falle ein Ausdruck von Kritikfähigkeit und Realismus. Jeder Forscher kann Fehler machen. Es ist für mich aber sehr schwer vorstellbar, dass Oberfeld tatsächlich nicht wusste, dass es an dem von ihm untersuchten Standort im steirischen Hausmanstätten nie eine C-Netz-Sendeanlage gegeben hat. Ich glaube auch, anders als ein Kommentator bei "heise", nicht, dass der Mann nicht den Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität verstanden hätte und ernsthaft den jeder Logik spottenden Umkehrschluss zog: "Sendemasten verursachen Krebs, wo es also mehr Krebserkrankungen als gewöhnlich gibt, muss es auch Sendemasten geben". (Warum nicht gleich eine gut getarnte Atomversuchsanlage? Dann hätte er wenigstens in das gut gehende Geschäft der professionellen Verschwörungstheoretiker einsteigen können.)

Was Dr. Oberfeld hingegen gut verstanden hat, ist, wie man mittels Studien Stimmungen erzeugen kann. Nur bei der Durchführung verhält er sich noch etwas unprofessionell. Lobbybuden wie die INSM gehen im Prinzip auch nicht anders vor, wie am Beispiel der Städte-Rankings besonders deutlich wird: Rankings: Wie bastel ich mir eine Spitzenposition? und INSM vergleicht Äpfel mit Birnen.

Das Prinzip der lancierten Studie beruht zunächst auf der simplen Erkenntnis, dass faule oder überforderte oder unfähige oder auch nur extrem überlastete Journalisten - und davon gibt es anscheinend sehr viele - auf Recherchen verzichten. Oft unterbleibt sogar die Ac-Hoc-Plausibilitätsprüfung.
Der zweite wichtige Punkt ist die "Glaubwürdigkeit". Schon die Tatsache, dass Dr. Oberfeld Arzt ist, erhöht seine subjektive Glaubwürdigkeit enorm. "Wissenschaftliche Langzeit-Studie" klingt auch schon mal gut. Aber der entscheidende Punkt ist der, dass Dr. Oberfeld behauptete, etwas nachgewiesen zu haben, das ohnehin zahlreiche Menschen für wahr halten, nämlich dass die Strahlung von Handymasten Krebs verursacht.
Wäre dem guten Doktor nicht der peinliche Patzer mit dem fehlenden Sendemast unterlaufen, würde seine Studie von zahllosen Mobilfunkgegenern überall in der Welt als Beweis für die üblen Wirkungen von Sendemasten zitiert werden.

Viele Studien, egal, ob sie die Unwirksamkeit von Konjunkturprogrammen oder die gesundheitsfördernde Wirkung von Pflanzenmagarine belegen, oder ob sie zeigen, dass es ALG II-Empfängern noch viel zu gut geht, sind beim näheren Hinsehen zweifelhaft. Der Fall "nicht existierender Sendemast verursacht Krebs" sollte deshalb Anlass zur Skepsis sein.

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