Pseudowissenschaftliche Mimikry: Entsäuerung

Neben der "Entschlackung" (als ob unser Stoffwechsel ein Hochofen wäre) ist die "Entsäuerung" eines der häufigsten pseudowissenschaftlichen Schlagworte, mit der Diäten und Nahrungsergänzungsmittel angepriesen werden.

Entsäuerung ähnelt in mancher Hinsicht dem inzwischen aus der Mode gekommenen "Biorythmus". Die Vertreter des "Biorhythmus" behaupten, dass sich die "gute und schlechte Tage" eines Menschen mit einem einfachen Rechenverfahren aus drei "Grundrythmen" zu 23, 28 und 33 Tage berechnen ließen. Der Aussagewert dieses Biorythmus entspricht etwas dem Versuch, durch Würfeln "gute" und "schlechte" Tage bestimmen zu wollen. Es gibt aber eine seriöse wissenschaftliche Disziplin, die Chronobiologie, die mit naturwissenschaftlichen Methoden die zeitliche Organisation von Lebewesen untersucht - die "biologischen Rhythmen". Der Hype um den "Biorythmus" in den 1980er Jahren ist ohne diese beabsichtigte Verwechslung kaum zu erklären. Die "innere Uhr" gibt es wirklich, nur läuft sie nicht so gleichmäßig, dass irgendeine Rechnung mit starren Zyklen Sinn machen würde.

Nach einem ähnlichen Prinzip, das man "pseudowissenschaftliche Mimikry" nennen könnte, funktioniert die "Entsäuerung". Sie beruht unter anderem darauf, dass wahrscheinlich jeder schon mal etwas vom wichtigen Säure-Basen-Haushalt in unserem Körper gehört hat, von der Übersäuerung der Muskulatur bei zu hartem Training und von den üblen Folgen eines zu hohen Harnsäurespiegels.
Anhänger der Idee der allgemeinen "Übersäuerung" unseres Körpers behaupten, dass unser Stoffwechsel ständig Säureattacken neutralisieren muss, damit die Zellen und der Stoffwechsel normal funktionieren. Unsere heute übliche Lebensweise und Ernährung wird für andauernde, heftige Säureattacken verantwortlich gemacht. Auf die Dauer führe das zu einer allgemeinen Übersäuerung in den Geweben. Glaubt man einige Anhängern der "Übersäuerungshypothese", die ich im Folgenden einfach "Entsäuerer" nenne, ist Übersäurung verantwortlich für nahezu alle Zivilisationskrankheiten und allgemeinen Befindlichkeitsstörungen.

Das erste "Original": Der Säure-Base-Haushalt
Der Säure-Base-Zustand im durchbluteten Körpergewebe entspricht dem des Blutes. (Die Oberhaut oder z. B. die Schleimhäute in Magen und Darm weichen davon ab, aber das spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle.) Der "Laborwert", der den Säure-Base-Zustand des Blutes angibt, ist der pH-Wert. Je niedriger der pH-Wert ist, desto saurer ist das Blut - und je höher, desto basischer. Destilliertes Wasser ist neutral und hat einen pH-Wert von 7, Essig hat einen pH-Wert von etwa 2,5, Magensäure von 1,0 - 1,5, der von der Bauchspeicheldrüse abgegebene Darmsaft 8,3 und Seife einen von 9 - 10.
Unsere Körperzellen können nur in einem bestimmten, leicht basischen Bereich arbeiten, deshalb hat das Blut beim gesunden Menschen einen pH-Wert von 7,37 bis 7,45. Vor allem die Lunge, die Leber und die Nieren halten das notwendige Verhältnis von Säuren und Basen im Gleichgewicht.
Bei einigen Krankheiten, vor allem schweren Infektionen, aber auch bei Vergiftungen oder nach langem Hungern, kann sich das Gleichgewichts verschieben. Liegt der pH-Wert unter 7,37 (was chemisch gesehen immer noch im basischen, nicht im sauren Bereich wäre), spricht man von Übersäuerung (Azidose), bei einem pH-Wert über 7,45 von einer Alkalose. Menschen, bei denen das der Fall ist, sind in Lebensgefahr und müssen intensiv behandelt werden. Bei den meisten Krankheiten weicht der pH-Wert des Bluts - und damit der durchbluteten Gewebe - allerdings nicht vom Normalbereich ab.

Das zweite "Original": die Harnsäure
Ein zu hoher Harnsäurespiegel im Blut kann zu Gicht, zur Harnsäure-Nierensteinen und im Extremfall zu Harnsäureinfarkten führen. Der häufigste Grund für eine erhöhte Harnsäurekonzentration (mehr als 0,4 mmol/l) ist die unzureichende Harnsäureausscheidung über die Nieren. Der Harnsäurespiegel ist z. B. beim erblichen Lesch-Nyhan-Syndrom erhöht, tritt aber auch bei der Fettstoffwechselerkrankung Hypertriglyceridämie auf, die durch hohes
Übergewicht oder starken Alkoholkonsum begünstigt wird. Auch eine starke Bestrahlung durch Röntgen- oder Gammastrahlen, etwa bei einer Strahlentherapie, kann den Harnsäurespiegel erhöhen. Aber auch die Ernährung beeinflusst den Harnsäurespiegel, und zwar durch die Aufnahme von Purinen. In Fleisch - vor allem Innereien wie Leber und Niere - in Fisch und in Hefe sind viele Purine enthalten, aber auch in Hülsenfrüchten und Nüssen. Stark purinhaltig sind auch Bier und Cola. Die Purine in Kaffee, schwarzem Tee und Kakao werden übrigens nicht zu Harnsäure abgebaut, deshalb gilt der Rat "kein Bohnenkaffee bei Gicht" als veraltet. Der Harnsäurespiegel kann z. B. nach einer reichlichen Fleischmahlzeit mit viel Bier kurzfristig deutlich ansteigen, reguliert sich beim gesunden Menschen aber schnell wieder ein.

Das dritte "Original": der Milchsäurespiegel
Der "Milchsäurespiegel" wird normalerweise angegeben durch den Lactatwert. Bei starker Muskelbeanspruchung kann es zum Anstieg des Blut-Lactatgehaltes kommen, wenn dem Muskel nicht genügend Sauerstoff zugeführt wird. Dann spricht man von anaerobe Bedingungen. Steht den Muskelzellen zu wenig Sauerstoff zur Verfügung, stellen sie auf "Notbetrieb" um und gewinnen Energie durch eine Prozess, der der Milchsäuregärung entspricht. Die dabei anfallende Milchsäure (Lactat und H+) wird aus den Zellen geschwemmt und mit dem Blut abtransportiert. Früher vermutete man, dass dieser Vorgang die Ursache des Muskelkaters sei ("Muskel ist sauer geworden"). Beim "anaeroben Betrieb" macht der Körper sozusagen "Sauerstoffschulden", die anschließend mit tiefen Atemzügen "zurückgezahlt" werden müssen. (Gegensatz: aerobe Bedingungen, Muskeltätigkeit mit ausreichend Sauerstoff. Die bekannte Tanzgymnastik "Aerobic" hat ihren Namen danach, dass bei ihr immer genug Sauerstoff für aerobe Muskeltätigkeit eingeatmet wird. Beim Laufen gilt die Faustregel: "Aerobisch ist Laufen ohne Schnaufen.")

Die Mimikry: die Übersäurungshypothese
Glaubt man den "Entsäuerern", dann führen die vermutete Übersäuerungen im Gewebe zu einer erhöhten Infektanfälligkeit. Außerdem soll Übersäuerung angeblich Hauterkrankungen, Allergien, Cellulitis, Asthma, Tinnitus, Kopfschmerzen, Gelenkerkrankungen und Osteoporose, Erschöpfungszustände und chronische Müdigkeit verursachen. Einige "Übersäuerungs-Experten" führen sogar die Arteriosklerose, die über Durchblutungsstörungen zum Herz- und Hirninfarkt führen kann, auf Säureüberschuss zurück.
Gegen die vermutete Übersäuerung wird empfohlen, dass weniger Säuren und mehr Basen mit der Nahrung aufgenommen werden sollen. Außerdem soll die Ausscheidung von Säuren gefördert und deren Neubildung im Körper gehemmt werden. Daraus leiten die "Entsäuerer" ihre Ernährungsempfehlungen ab. Ungünstige Nahrungsmittel sind demnach Kaffee, schwarzer Tee, Cola, Alkohol, Fleisch, Hartkäse oder Süßigkeiten. Stattdessen sollen mehr frisches Obst und Gemüse und vor allem Kartoffeln auf dem Speiseplan stehen.
Für Menschen mit erhöhten Harnsäurespiegel ist das eine sehr sinnvolle Diät (abgesehen vom Verzicht auf Kaffee und Tee, deren Purine nicht zu Harnsäure abgebaut werden). Anderen Menschen kann sie zumindest gesundheitlich nicht schaden.
Ein anderer sinnvoller Rat der "Entsäuerer" ist es, regelmäßig, in Maßen und in Ruhe zu essen. Auch gegen den Rat, Stress zu vermeiden, Entspannungstechniken wie autogenes Training zu praktizieren und ausreichend zu schlafen, lässt sich schwerlich etwas sagen.
Um die Säureausscheidung zu verstärken, empfehlen die "Entsäuerer" viel Bewegung, Kneipp-Anwendungen und Saunagänge.
Auch wenn das den ph-Wert der Gewebe nicht erhöht, ist das bei den meisten Menschen gesundheitsfördernd.

Also ist "Entsäuern" zwar medizinischen gesehen Unfug, aber wenigstens ein Unfug, der nicht schadet, sondern eher nützt?
Das wäre der Fall, wenn die "Entsäuerer" nicht zusätzlich zu ihren sinnvollen oder wenigstens unschädlichen Gesundheitsratschlägen Nahrungsergänzungsmittel wie "Basentabletten" oder "Basenpulver" anpreisen würden. Diese Präparate sind unterschiedliche Mischungen aus Spurenelementen und anderen Mineralstoffen, oft auch in Kombinationen mit weiteren Stoffen wie Vitaminen. Diese Präparate sollen den Ausgleich des Säure-Basen-Haushalts unterstützen und werden außer im Esoterik-Handel auch in Reformhäusern und sogar in Apotheken angeboten.
Das Dumme ist nur, dass basische Mineralien schon im Magen mit einer starken Säure in Kontakt kommen und neutralisiert werden. Allenfalls steigt der pH-Wert der Magensäure etwas an.
Außerdem bestehen die Entsäuerungspräparate durchweg aus vergleichsweise preiswerten Zutaten, und werden zu manchmal abenteuerlich hohen Preise verkauft.

Was ist also vom "Entsäuern" zu halten?
Störungen des Säure-Basen-Haushalts sind unstrittig gefährlich, ein zu hoher Harnsäurespiegel kann zu Gicht, Harnsäure-Nierensteinen und Harnsäure-Infarkten führen, und beim Ausdauersport sollte man den Michsäurespiegel (Laktatspiegel) niedrig halten.

Hingegen gibt es die "Gewebeübersäuerungen", jedenfalls in der Form, in der sie von den "Entsäuerern" angenommen werden, wahrscheinlich überhaupt nicht. Außerdem reguliert der menschliche Organismus gerade den Säure-Basen-Haushalt enorm effizient.
Die Behauptung, dass nahezu alle Zivilisationskrankheiten durch eine allgemeine Übersäuerung verursacht oder wenigsten mitverursacht werden, ist wissenschaftlich nicht belegt und noch nicht einmal plausibel.

Die allgemeinen Empfehlungen der "Entsäuerer" sind meistens gesundheitsförderlich oder wenigstens nicht schädlich. Aus der Sicht der Naturheilkunde sind richtige Ernährung, Bewegung, Entspannung und Kälte- und Wärmereize wichtige Säulen einer ganzheitlichen, ursächlichen, Behandlung von Krankheiten. Darüber hinausreichende spezielle "entsäuernde" Präparate sind dagegen sinnlos - (und meistens noch nicht einmal "gute" Placebos).
Schlimmer noch: stark mineralhaltige Präparate sollten grundsätzlich nur nach Rücksprache mit dem Arzt oder Heilpraktiker eingenommen werden, da bei Überdosierungen gefährliche Nebenwirkungen möglich sind.
Ein weiteres Risiko besteht darin, dass stark auf die "Übersäurungs"-Hypothese fixierte Patienten (und Heilpraktiker) unter Umständen die möglichen wirklichen Ursachen (Grunderkrankungen) für die Symptome übersehen. Das kann die Diagnose der Grunderkrankungen verzögern, zu Fehldiagnosen führen, oder sogar dazu, dass notwendige medizinische Behandlungen versäumt werden.

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