Von Prioritätenlisten und faulen Sündenböcken

Ärztepräsident Jörg-Dietrich Hoppe hat zum Auftakt des 112. Deutschen Ärztetags den Vorwurf erhoben, dass die Politik die Öffentlichkeit bewusst über den Zustand des Gesundheitswesens täuschen würde. "Die Öffentlichkeit ist lange genug geblendet worden", erklärte er in Mainz. Wer heute "behauptet, die umfassende Gesundheitsversorgung sei sicher, der sagt schlicht und einfach nicht die Wahrheit". Ärztepräsident wirft Politik Lügen vor. Ärztepräsident Hoppe fordert eine Prioritätenliste. Was meiner Ansicht nichts an den strukturellen Konstruktionsfehlern des deutschen Gesundheitssystems ändern würde und die Tatsachen eher vernebelt. Es gibt einen Verteilungskampf innerhalb des Gesundheitssystems, und Hoppe vertritt in diesem Verteilungskampf eben die Interesse "seiner" Ärzte. Ein Vertreter z. B. der Pharmaindustrie würde anders reden.
Aber ich bin schließlich kein Gesundheitsökonom.

Gesundheitsökonom ist hingegen Professor Günter Neubauer, Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomik (IfG) in München, der von tagesschau.de interviewt wurde: "Künstliche Hüfte erst bei Normalgewicht". Ein Interview, das meines Erachtens einen unangenehmen propagandistischen Drall hat.
tagesschau.de: Was treibt die Kosten im Gesundheitssystem in die Höhe?

Neubauer: Zu den Hauptfaktoren gehören die medizinischen Innovationen, die für eine älter werdende Bevölkerung von hoher Bedeutung sind. Und natürlich die Demokratie, die sagt: Von den Innovationen soll möglichst keiner ausgeschlossen werden - zumindest keine wichtige Wählergruppe.
Eine, wie ich finde, unbefriedigende Antwort. Zwar sind medizinische Neuerungen und die demographische Entwicklung Faktoren bei der Kostensteigerung im Gesundheitswesen - wobei meiner Ansicht nach von einer "Kostenexplosion" keine Rede sein kann.
Einige weitere, spezifische deutsche, Gründe für ein teures Gesundheitswesen sind z. B. die in Deutschland überdurchschnittlich hohen Arzneimittelpreise, und die Tatsache, dass hierzulande z. B. erheblich mehr geröngt wird, mehr Katheteruntersuchungen gemacht werden, überhaupt ein Patient häufiger untersucht wird, als in unseren Nachbarländern. Im Falle z. B. des Röntgens durchaus auch zum gesundheitlichen Nachteil des Patienten.
Über Deutschland hinaus gibt es weitere Faktoren, die die Gesundheitskosten in die Höhe treiben. Da wären z. B. die erfundenen Krankheiten, vom "Sissi-Syndrom" bis zu utopisch niedrigen Cholesterin-Grenzwerten. Wie überhaupt die wirtschaftlichen Interessen der Arznei- und Hilfsmittelhersteller oft "über Bande" durchgesetzt werden. Es wird für meinen Geschmack auch zu wenig darüber diskutiert, dass die Pharmaindustrie mehr Geld für Public Relation als für Forschung ausgibt. Interessant ist auch die Tatsache, dass Privatpatienten, obwohl sie diagnostisch gesehen im Schnitt "gesünder" sind als Kassenpatienten, z. B. im Schnitt häufiger operiert werden als Kassenpatienten.
Der Anteil der Kosten für das Gesundheitswesen am Bruttoinlandsprodukt liegt übrigens seit Jahrzehnten ziemlich konstant bei 10 Prozent. Die finanziellen Probleme der Sozialsysteme sind nicht wegen einer "Kostenexplosion" eskaliert, sondern hauptsächlich wegen der Einnahmeeinbrüche durch die hohe Arbeitslosigkeit und unzureichende Lohnerhöhungen - denn Sozialbeiträge sind an die Löhne gekoppelt.

Zurück zum Interview. Neubauers Antworten haben einen "Spin", den man z. B. auch aus dem Harz-IV / ALG II -Diskurs kennt: "Wem es dreckig geht, der ist halt selber schuld".
Bei der Prioritätensetzung kommt ein Aspekt dazu, den auch Herr Hoppe meint: Es ist die Frage der Verursachung durch veränderbare Verhaltensweisen. Das heißt: Ein übergewichtiger Mensch sollte seine Hüfte erst erhalten, wenn er auf Normalgewicht kommt, weil dann diese Hüfte länger hält und er sich in dieser Form indirekt beteiligt. Zugleich ist dies eine Warnung an andere Übergewichtige, nicht erst alles in sich hineinzufuttern und die negativen Folgen von anderen finanzieren zu lassen.
Dass Neubauer dabei tatsächlich auch an Langzeitarbeitslose denkt, wird aus folgender Antwort klar:
Die Übergewichtigen würden in einer privaten Versicherung höhere Beiträge zu zahlen haben. Denn sie belasten durch ihr Übergewicht die Versichertengemeinschaft stärker. In der Solidargemeinschaft zahlen die Übergewichtigen aber in der Regel niedrigere Beiträge, weil meist auch ihr Einkommen niedriger ist. Von daher ist das Gefühl der Gerechtigkeit auch von der anderen Seite zu sehen: Der Beitragszahler, der jeden Morgen aufsteht und joggt, um sein Gewicht zu halten, wird es als äußerst ungerecht empfinden, dass neben ihm jemand erst um 8 Uhr aufsteht, bis 10 Uhr futtert, Übergewicht hat und dann eine Hüfte braucht, für die er mitzahlen muss.
Erst um "8 aufstehen und bis 10 Uhr futtern" kann regelmäßig eigentlich niemand, der Arbeit hat. Es ist meiner Ansicht nach bezeichnend, dass Neubauer den Faktor "Faulheit" hervorhebt, und nicht etwa den, dass z. B. Niedrigverdienern oft nichts anderes übrig bleibt, als sich "billig" und damit oft ungesund zu ernähren.
(Übrigens ist gerade Joggen nicht der ideale Sport für Menschen mit beginnender Arthrose. Aber Neubauer ist schließlich Gesundheitsökonom, kein Arzt.)

Der Ansatz, der von Neubauer vertreten wird, folgt der weit verbreiteten Tendenz, unreflektierte "Stammtischargumente" mit der kühlen instrumentellen Vernunft der Ökonomie zu verbinden.
Ein - mutmaßlich gut verdienender - privat Versicherter soll ruhig sein Übergewicht haben, denn er zahlt dafür. Ein gesetzlich Versicherter ist hingegen verpflichtet, der Gemeinschaft nicht "zu Last zu fallen", und hat gefälligst so gesund wie möglich zu Leben. Ganz besonders gilt das für die unproduktiven Langzeitarbeitslosen.

Fast erinnert Neubauers Antwort an den berühmt-berüchtigten ehemaligen Berliner Ex-Finanzsenator Sarrazin. Sein Speiseplan für Hartz IV-Empfänger, mit dem er beweisen wollte, dass man sich auch mit dem Regelsatz gesund und ausreichend ernähren könnte, war auf einen unrealistisch niedrigen Tagesbedarf von 1.550 kcal ausgelegt. Sarrazin "rechtfertigte" seine Hungerdiät mit dem zynischen Ausspruch: "Wenn man sich das anschaut, ist das kleinste Problem von Hartz-IV-Empfängern das Untergewicht".

Der Mensch im ökonomistischen Weltbild ist ein Kostenfaktor, Abweichungen von der Norm erzeugen Verluste, folglich muss der Mensch für das System zugerichtet werden. Juli Zeh stellt in ihrem dystopischen Roman "Corpus Delicti" die logische Konsequenz des Kosten-Nutzen-Denkens im Gesundheitswesen dar: eine Gesundheitsdiktatur, in der "Abweichler" zu Gunsten des vermeindlichen Gemeinwohls "beseitigt" werden. Juli Zeh über Gesundheitsdiktatur (Zeit.de).
Rayson (Gast) - 20. Mai, 13:06

Ich finde es interessant, was man Menschen an Verantwortung zumisst und was nicht. Anscheinend gehört die eigene Gesundheitsvorsorge nicht dazu, so dass man die Folgen eines wenig gesundheitsbewussten Lebens mit Fug und Recht auf andere abschieben kann, die sich dann um einen zu kümmern haben.

Das "System", um das es hier geht, ist das einer "Solidar"-Versicherung. Die "Verluste" entstehen bei jedem anderen Beitragszahler. Ist es Folge eines "ökonomistischen Weltbildes", darauf hinzuweisen, dass die Kosten eines unsolidarischen Verhalten auf andere abgewälzt werden?

Erliegen diejenigen, die Steuerhinterziehung moralisch verurteilen, etwa auch einem "ökonomistischen Weltbild"? Oder sieht die gesellschaftliche Norm so aus, dass man zwar die Kosten, die man verursacht, von anderen bezahlen lassen, aber selbstverdientes Geld nicht ohne weiteres behalten darf?

Ich glaube eher, der Vorwurf "ökonomistisches Weltbild" ist in Wirklichkeit eine Variante, den Boten zu köpfen, der unangenehme Wahrheiten überbringt.

MMarheinecke - 20. Mai, 14:35

Ich glaube, da verstehst Du mich falsch.

Es liegt in meinem eigenen besten Interesse, mich um meine Gesundheit zu bemühen.
Anderseits lass ich mich nicht gerne in dieser Hinsicht gängeln.

Es stimmt grundsätzlich schon: Die Gemeinschaft (der gesetzlich Versicherte) schuldet mir Fürsorge in der Not (Krankheit), und ich schulde der Gemeinschaft das Bemühen, solche Not nach Möglichkeit zu vermeiden. Allerdings kann man mit dieser utilitaristischen Logik auch erpressen. (Wie schildert henteaser in seinem Kommentar dankenswerterweise sehr deutlich.)
Vor allem aber kann lässt sie sich dazu verwenden, jenen die "Schuld" an der finanziellen Misere des Gesundheitswesens zuzuschieben, die dafür genau genommen herzlich wenig können. Bezogen auf die Steuerhinterzieher ist das etwa so, als würde nur hinterzogene Einkommenssteuer auf nicht-selbstständige Arbeit geahndet werden - und auch das nur unterhalb einer Einkommensgrenze. (Denn Privatversicherte können sich vom angestrebten Zwang zur gesunden Lebensführung ja freikaufen.)

Die "unangenehme Wahrheit" sieht ganz anders aus:
Obwohl die reale Kostensteigerung im Gesundheitswesen sich in den letzten Jahren in etwa im Bereich des Wachstums des BIP befand, es also die viel zitierte "Kostenexplosion" gar nicht gab, steht das Gesundheitssystem finanziell vor dem Kollaps (und zwar nicht nur in Deutschland).
Die realen Kostensteigerungen im Gesundheitswesen sind nicht einem stets schlechter werdenden Gesundheitszustand der Bevölkerung geschuldet. Denn es gibt keine Hinweise darauf, dass die Deutschen im Durchschnitt heute "kränker" seien oder ungesünder leben als vor etwa 20 oder 30 Jahren.
Unstrittig auch, dass vielen, die in ärztlicher Behandlung sind und regelmäßig ihre Medikamente bekommen, eigentlich nichts fehlt. Außer, dass z. B. ihr Blutfettspiegel nicht ganz der (niedrig angesetzten) Norm entspricht. Anderes Beispiel: Früher hieß es: "Jemand hat sich überarbeitet und ist ausgebrannt. Der Ärmste braucht dringend Entspannung und sollte künftig Stress am Arbeitsplatz vermeiden." Heute heißt das "Burn-Out-Syndrom", gilt als Form der Depression und wird u. A. mit Antidepressiva vom Typ der SSRH behandelt. Ist der Betreffende dann wieder "fit", geht der Stress munter weiter - gegebenenfalls medikamentiös unterstützt.
Und ob unkonzentrierte und "zappligen" Kindern immer an AHDS leiden, und vor allem, ob Ritalin und ähnliche Drogen bei AHDS immer die die Therapie der Wahl sind (wie es heute gerne dargestellt wird) wage ich sehr zu bezweifeln.
Gregor Keuschnig - 20. Mai, 17:25

Ich stimme Rayson weitestgehend zu. Die Konsequenzen liegen auf der Hand: Entweder die Solidarität wird "eingefordert", was einige dann als Gängelei sehen (wo beginnt diese Gängelei denn - beim Rauchen nach der soeben überstandenen Krebsoperation oder bei der "Verpflichtung" zur gesunden Ernährung?) oder der ohnehin brüchige Schirm der Solidarität wird neu gestrickt und man verabschiedet sich von den hehren Sprüchen.

Eben damit nicht dauernd Krankheiten erfunden werden müssen, um die Rentabilität von Arztpraxen aufrecht zu erhalten, ist eine radikale Umstrukturierung des Systems erforderlich. Kleinigkeiten wie Erkältungen oder Schmerzen im linken großen Zah müssen in Zukunft von den Versicherten selber bezahlt werden (das kann nach dem Vorbild der Privatkrankenversicherung mit einem spezifischen Betrag/Jahr gedeckelt werden).

Abgedeckt sind nur noch Notfälle, chronische Krankheiten, die nach einem Verursachungsschlüssel behandelt und reguliert werden und unvorhersehbare, teure Medikationen wie Transplantationen o. ä. Im Gegenzug werden die Krankenkassenbeiträge radikal gesenkt (mindestens 40%), die kassenärztlichen Vereinigungen abgeschafft, die 163 oder 184 Krankenkassen zusammengelegt (es gibt eh keinen Wettbewerb zwischen ihnen). Wer mehr will, kann zahlen oder sich zusätzlich versichern lassen.

Wenn ich zum Arzt gehe, muss ich merkwürdigerweise fast alle Medikamente und Anwendungen ohnehin bezahlen - trotz Höchstsatz in der GKV. Dafür darf ich dann zwei, drei Stunden im Wartezimmer Platz nehmen und alten Leuten zuhören, für die ihre Ärzte-Odysseen fast noch ihr einziger Lebenssinn ist.
henteaser (Gast) - 20. Mai, 14:21

@rayson: Ich hingegen finde es interessant, dass du Menschen verantwortlich machen willst für Gebrechen, die (nicht unbedingt nachweislich, schon klar) einem Lebenslauf geschuldet sind, den sie sich nicht selbst wirklich auswählen konnten.

Die Frage ist doch beispielsweise, ob der Hüftschaden durch das pseudo-eigenverantwortliche Missachten von Arbeitsschutzbestimmungen entstand, der Hüftgeschädigte nun arbeitslos ist und 'verfettet', weil er sich kaputtgeschuftet hat und nun lieber an seiner Gesundheit spart (Fastfood, Tiefkühlpizza, Gammelfleisch,etc. machen's möglich), anstatt auf Auto oder Doppelhaushälfte zu verzichten.

Das ist nämlich die dunkle Seite des Förderns und Forderns: viele der Geforderten übernehmen sich körperlich und geistig, und gehen eben nicht gleich wegen 'jedem Quatsch' zum Arzt.

Manchmal stellt sich dieser Quatsch später als kaputter Rücken, Darmkrebs o.ä. heraus und die Totkranken müssen sich von gutbezahlten Ökonomen als fette Säue beschimpfen lassen, denen man besser erst dann mit zeitgemäßer Technik hilft, wenn sie die offensichtlichen Symptome ihrer ungesunden Lebensweise selbst unter Kontrolle bekommen haben.

....

FDP-Rösler bewarb übrigens kürzlich auf süddeutsche.de die Steuerreform unter anderem mit folgendem Horrorszenario: "Es klingt ja gut, wenn man sagt: Alle zahlen ein. Aber wenn alle einzahlen, haben auch alle Ansprüche und kriegen etwas raus."

Wie bitte? Von meinen Steuergeldern werden Straßen gebaut, auf denen ich nie fahre? In Dörfern, von denen ich nie gehört habe?! Also echt mal, so geht das doch nicht! Wirklich grässlich, dass Solidarität bedeutet, fremde Menschen finanziell zu unterstützen.

http://www.sueddeutsche.de/politik/982/468547/text/7/

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