Das PIPPO-Syndrom - oder: Wie man finanziell attraktive Krankheiten generiert

Das lebendsbedrohliche PIPPO-Syndrom entdeckte ich soeben in einem interessanten Artikel Ein Pippo breitet sich aus. Wobei das PIPPO-Syndrom in erster Linie für das Krankenversicherungssystem lebensbedrohlich ist.

Nun ist Lesern des sehr empfehlenswerten aufklärerischen Buches von Jörg Blech Die Krankheitserfinder nichts Neues, dass wir systematisch zu Patienten gemacht werden. (Nebenwirkung - sehr häufig: unbezahlbares Gesundheitssystem.) Blech schrieb zu diesem Thema 2003 den immer noch aktuellen "Spiegel"-Artikel Die Abschaffung der Gesundheit.
Wie Pharma-Lobbying in der Praxis (in doppelter Wortbedeutung) funktioniert, lässt sich regelmäßig im Blog Stationäre Aufnahme nachlesen.

Wie aber erfindet man eine finanziell attraktive Krankheit? Norbert Donner-Banzhoff zeigte in seinem Eröffnungsvortrag einer Konferenz für evidenzbasierte Medizin, wie es gemacht wird:
Donner-Banzhoff verpasste ihr ganz nach Pharmamanier auch gleich ein medizinisches Etikett: das PIPPO-Syndrom.

Ein PIPPO in freier Wildbahn
Wer einen Fall von PIPPO erleben will will, dem riet der Marburger Mediziner, eine beliebige Seite der Ärztezeitung (nicht zu verwechseln mit dem Ärzteblatt) aufzuschlagen. Denn in jeder Ausgabe finde man mindestens ein halbes Dutzend Artikel dieses Schemas:

The Random medical news
Das Auftreten von X nimmt immer bedrohlichere Ausmaße an. Glücklicherweise steht in Form von Y eine wirksame und sichere Behandlung zur Verfügung, wie Professor Z (siehe Foto) auf einem Satellitensymposium der Firma Q anlässlich der Jahrestagung der Fachgesellschaft für R mitteilte.


Darin, so Donner-Banzhoff, steckt alles, was ein PIPPO braucht:

P wie Panik vor einer neuen oder alten Krankheit, die auf jeden Fall immer schlimmer wird
I wie Industrienähe, denn wo dieses Syndrom auftritt, befindet sich auch ein neues Medikament in Reichweite
P wie Pathophysiologie, insbesondere bunte Bilder, die den Zusammenhang zwischen Krankheit und Medikament anschaulich darstellen
P wie Pseudolösungen, also Technologien, die Probleme (scheinbar) bekämpfen, nicht aber deren Ursachen
O wie Ohne Grenzen

Das "O" stehe für den grenzenlosen "Drang des PIPPO-Charakters", also des Syndromverursachers, "die Menschheit mit seinen Technologien zu beglücken", sagte Donner-Banzhoff. Anlässe gibt es genug: "Von rüpelhaften Kindern und Schwierigkeiten beim Sex über Aufstoßen und Sodbrennen bis zu Konzentrationsschwierigkeiten und Unglück im Allgemeinen – das alles kann man mit medizinischen Etiketten versehen. Und das tun wir, seit es ein kommerzielles Verwertungsinteresse gibt."
Einige besonders offensichtliche Fälle:
Das Sisi-Syndrom, eine neue Ausprägung der Depression, wurde 1998 von der Firma SmithKline Beecham (heute GlaxoSmithKline) ans Licht der Welt gebracht, Jenapharm und Dr. Kade/Besins Pharma erfanden das Aging-Male-Syndrom, die Menopause des Mannes. Aber auch gesenkten Grenzwerte für Blutzucker (bei Typ II-Diabetes) oder für Blut-Cholesterin gehen auf das Konto des PIPPO-Syndroms.

Es gibt aber, laut Donner-Banzhoff, ein probates Mittel gegen diese Epidemie: unbequeme Fragen.
Gab es Studien und wie war ihr Design?
Steht der Nutzen einem möglichen Schaden gegenüber?
Erlaubt der Wert, den eine neue Vorsorgeuntersuchung misst, wirklich einen Rückschluss auf die spätere Krankheit?
Und, mit Hinblick auf das Symptom "I wie Industrienähe": Wer hat wen bezahlt?

Ich vermute, dass es, neben reinen finanziellen Interessen, noch weitere wichtige Faktoren für die PIPPO-Epidemie gibt. Einer wäre die weit verbreitete Tendenz, Norm-Abweichungen zu pathologisieren, zur Krankheit zu erklären - und zwar, um sich nicht mit sozialen Problemen auseinandersetzen zu müssen. Wenn etwa AHDS auf eine Stoffwechselstörung im Hirn des kleinen Zappelphillips reduziert wird, die durch Ritalin-Tabletten "repariert" werden kann, dann erspart das den Eltern und Lehrern die Auseinandersetzung mit den Gründen, wieso Kinder in der Schule unkonzentriert und zappelig sind.
Außerdem liegt nahe, dass ohne Angst als allgemeines Lebensgefühl sich sich die PIPPO-Epidemie nicht ausbreiten könnte.

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