Dicke Panikmache

Im aktuellen Heft des populärwissenschaftlichen Magazins "Bild der Wissenschaft" findet sich ein Artikel, der über den eigentlichen Inhalt hinaus interessant ist:
Dicke Kinder, dünne Daten
In der Debatte um übergewichtige Kinder herrscht, dem Artikel zufolge, viel Hysterie. Es kursieren falsche Zahlen; es gibt gar nicht so viele krankhaft übergewichtige Minderjährige, wie immer wieder behauptet wird.
Kindliches Übergewicht ist schwer zu bewerten. Deshalb lässt sich heute kaum vorhersagen, wie krank dicke Kinder als Erwachsene sein werden - womit Szenenarien, wie sie etwa Gesundheitsministerin Ulla Schmidt öffentlich vertritt, fragwürdig werden. ("Übergewichtigte Kinder sind die Diabetiker und Diabetikerinnen und Herzinfarktopfer von morgen" - Sie beziffert die Folgekosten von Fehlernährung auf rund 70 Milliarden Euro pro Jahr.)
Betrachtet man etwa die KiGGS-Studie des Robert-Koch-Instituts, dann wird schnell klar, dass Alarmmeldungen wie "Jedes Dritte Kind in Deutschland ist übergewichtig" (Familienministerin Ursula von der Leyen) übertrieben sind. 15 % der deutschen Kinder und Jugendlichen sind übergewichtig, und 6 % adipös, also fettsüchtig. Außerdem ergibt sich aus der Studie, dass vor allem Kinder und Jugendliche aus Zuwandererfamilien und aus armen Haushalten für Übergewicht anfällig sind.
Die Abhängigkeit von sozialen Umfeld zeige, "dass Übergewicht kein Problem von einzelnen Menschen ist, die sich nicht beherrschen können", folgert Manfred Müller, Ernährungsmediziner an der Universität Kiel.
Interessant und wenig bekannt ist auch, dass zwar die Kinder in Deutschland seit den 1980er Jahren bis zur Jahrtausendwende immer dicker geworden sind, dass aber die Entwicklung seitdem stagniert und teilweise sogar rückläufig ist.

Es ist auch bekannt, welche Maßnahmen gegen kindliches Übergewicht wirklich helfen - und welche nicht. Der Stuttgarter Soziologe Michael Zwick plädiert aus der praktischen Erfahrung heraus für Gesundheitserziehung in Kindergarten und Schule, womit er aber keinen Ernährungsunterricht, in dem nur über die Gefahren ungesunden Essens aufgeklärt wird, meint. Stattdessen sollten die Kinder die Möglichkeit haben, in der Schule das Kochen zu üben. Eine wirkungsvolle Ernährungserziehung sollte unbedingt mit mehr Schulsport einhergehen.
Ein bescheidenes, aber pragmatisches Programm, um ein reales, aber nicht dramatisches Problem zu lösen.

Warum dominieren statt dessen aber Horrorzahlen und schneidig formulierte Programme die öffentliche Debatte?
Zwick ist der Ansicht, dass Politiker gerne mit überzogenen Zahlen hantieren, weil ihr Engagement nur honoriert wird, wenn es auch tatsächlich ein Problem gibt. Deutsche Verbraucherminister, aber auch EU-Minister, könnten sich sicher sein, dass Aktionen im "Kampf gegen die Fettleibigkeit" bei den Wählern gut ankommen.
"Auch Wissenschaftler können leicht dafür Forschungsgelder akquirieren, und Journalisten können sich durch dieses Top-Thema hervortun".

Wieso aber werden die schneidig formulierten Programme nur halbherzig umgesetzt? Zwick vermutet, dass Teile der Wirtschaft erheblich von der Fettleibigkeit profitieren: etwa die Diätmittelindustrie. Auch die Ernährungsindustrie, etwa die Zuckerindustrie, hat massive Interessen. Hersteller von Spielkonsolen, Kurkliniken, Hersteller von Zubehör für Übergewichtige - all diese Branchen wollen in Zukunft noch Geschäfte machen, indem sie entweder zum Zunehmen verführen oder beim Abnehmen zu helfen versuchen.
Hinzu käme, dass übermäßige Fettpolster ein Mittel der sozialen Unterscheidung geworden sind: es ist die "gute Figur", an der man Bessergestellte erkennt. Auch diese Gruppe hätte also kein Interesse daran, dass alle rank und schlank sind.
Ich sehe das ein ein klein wenig anders: es gibt das, auch von den Medien verbreitete, Klischee vom faulen, fetten Unterschichtler, der nicht nach "oben" kommt, weil er eben faul, träge und willensschwach ist. Wenn nun allgemein bekannt würde, dass Übergewicht kein Problem von einzelnen Menschen ist, die sich nicht beherrschen können, sondern sozial bedingt ist (je ärmer, desto ungesunder ernährt), dann wäre auch der Mythos vom Unterschichtler, der "selber Schuld" ist, und damit auch der vom fitten, schlanken und willensstarken Erfolgsmenschen gefährdet. (Selbstverständlich ist jede in gewisser Hinsicht für seine Ernährung selbst verantwortlich. "Verantwortlich sein" und "Schuld haben" sind zwei völlig verschiedene, aber gern absichtlich verwechselte Begriffe.)

Die Schäden haben die übergewichtigen Kinder. Sie werden stigmatisiert, gelten als dumm, faul und unsympathisch - auch bei Altersgenossen. Es ist kein gutes Zeichen, wenn gemäß der DONALD-Studie jeder dritte Jugendliche zwischen 11 und 17 Jahren nicht mehr mit "gesundem Appetit" isst, sondern Kalorien zählt und sich bei Tisch zügelt. Viele dieser jungen Menschen halten sich fälschlicherweise für zu dick: Magersucht als Folge politischer und medialer Aufgeregtheit über die "Fettsuchtepidemie bei Kindern".

Die Vermutung liegt nahe, dass auch bei anderen politisch oder medial hochgejazzten tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Problemen ähnliche Mechanismen am Werk sind.
Ein Problem wird hochgekocht, weil es sich für Politiker, wirtschaftliche Interessengruppen, interessierte Wissenschaftler und nicht zuletzt die Medien lohnt, es zu instrumentalisieren.
Es wird aber nicht gelöst, weil an dem Problem auch noch gut verdient wird.
Hinzu kommt - was im "Bild der Wissenschaft"-Artikel nicht weiter erläutert wird - dass die angestoßenen Präventionsprogramme, etwa gegen Fehlernährung, nicht etwa pragmatisch da ansetzen, wo sie am effektivsten Helfen (Kochunterricht in der Schule usw.), sondern grundsätzlich wird die "Schuld" auf den Einzelnen abgeladen. Bei Ernährungsprogrammen äußerst sich das in Bevormundung - etwas, was sich betroffene Eltern nachweislich ungern bieten lassen.
Wer Zweifel am Sinn der Präventionsmaßnahmen hegt, dem wird Angst gemacht. ("Die erste Generation, die vor ihren Eltern stirbt".)
Greift die Angstmache nicht, wird der Zweifler mit Hinweisen auf die Dringlichkeit des Problems zum Schweigen gebracht. Die dritte Stufe, nämlich dass der Kritiker selbst als "Gefährder" dargestellt wird, kommt beim Problem "kindliches Übergewicht" noch nicht zum Tragen. Bei anderen hochgekochten Problemen, wie dem der "Killerspiele", ist das schon gang und gebe.

Auch bei den "dicken Kindern" zeigt sich, dass präventive Logik ist expansiv ist: Wenn eine schneidig formulierte Präventionsmaßnahme nichts gefruchtet hat (vielleicht, weil sie gar nicht fruchten sollte), dann muss eben die nächste, noch drastischere Maßnahme nachgeschoben werden. Eine Vorbeugung mit konkreter Zielsetzung, wie sie im Falle "dicke Kinder" z. B. Zwick vorschlägt, wird hingegen vernachlässigt. (Es wäre ja auch zu schade, wenn sich das schöne Problem erledigen würde, und zwar ohne spektakuläre Großprogramme und Zwangsmaßnahmen, mit denen man sich so schön profilieren und ggf. so schön verdienen kann ... )

Horrorprognosen, egal, ob aus dem Bereich Gesundheit, Umwelt, Demographie, Kriminalität oder Wirtschaft, dienen, ab einem gewissen Schrecklichkeitsgrad, übrigens nicht der Aufklärung, sondern der Angstmache. Angst ist "politisch nützlich", denn wer Angst hat, wird passiv. Und ist damit gut beherrschbar.

Ein weiteres Problem ist, dass die Beschäftigung mit den hochgekochten Problemen Ressourcen bindet, die bei der Bewältigung echter Probleme, die aber nicht "in" sind, fehlen.
ryuu - 21. Jan, 22:39

Bemerkungen zur Bewegung

"Eine wirkungsvolle Ernährungserziehung sollte unbedingt mit mehr Schulsport einhergehen." - Hm. Meines Erachtens liegt beim Schulsport sehr viel im Argen. Hätte ich nicht gleichzeitig Ballettunterricht gehabt, hätte mir der Schulsportunterricht den Spaß an der Bewegung nachhaltig versaut. Ich kenne nur wenige, für die Schulsport nicht eher eine peinliche Quälerei war.

Was auch gern unterschlagen bzw. übersehen wird: Sport kostet Geld. Und wenn's nur Sportschuhe und Jogginghosen sind oder Badeanzug und der Eintritt fürs Schwimmbad - für manchen Niedriglöhner oder Menschen, die auf Transferleistungen angewiesen sind, ist das nicht zu stemmen. Ich habe mir das Geld dafür während des Studiums und während meiner anschließenden Arbeitslosigkeit irgendwie abgezwackt, aber das hätte ich vielleicht nicht getan, wenn mir Bewegung nicht so wichtig geworden wäre. Daran gewöhnt habe ich mich übrigens in einer Zeit, als es mir finanziell noch nicht so schlecht ging und ich mir zweimal in der Woche Ju Jutsu-Training geleistet habe.

MMarheinecke - 21. Jan, 23:04

Beim Schulsport liegt tatsächlich viel im Argen

Meine eigenen Erinnerungen an den Schulsport sind gemischt - bzw. es hing sehr von der Persönlichkeit des Sportlehrers ab, ob er was taugte. Leider schienen sich autoritäre Lehrer, die in den "normalen" Fächern nicht (mehr) so konnten, wie sie wollten, in den Sportstunden austoben.
Ein Problem, das auch noch heute besteht, ist, dass jede Form des schulischen Bewegungstrainings, wenn man es mal so nennen will, an die Sportzensur gekoppelt ist - dass heißt, es herrscht Leistungsdruck (vielleicht nicht gerade in der Grundschule), der ziemlich zuverlässig den Spaß am Sport abtötet. Das heißt, für die dritte und vierte "Sportstunde" dürfte es allenfalls ein "Teilgenommen / nicht Teilgenommen" geben - der Spaß an der Bewegung muss im Vordergrund stehen.

Das Sport Geld kostet, ist IMO eindeutig ein Grund dafür, dass es bei armen Familien mit der Bewegung eher mau aussieht.
Gregor Keuschnig - 22. Jan, 13:16

Das Sport "Geld kostet" mag sein. Sportliche Betätigung kostet allerdings nichts. Dass "Bewegung" bei armen Familien an Geld gekoppelt ist, stufe ich unter "Märchen" ein. Das ist höchstens ein willkommenes Alibi, nichts zu verändern.
MMarheinecke - 22. Jan, 14:35

Stimmt, aber ...

das wesentliche Hindernis beim Ausbau des Breitensports ist tatsächlich fehlendes Geld. Geld, dass nicht unbedingt den Familien selbst fehlt: Es wäre wenig effektiv, einfach "Sportgeld" an arme Familien zu verteilen, oder "Bewegungsgutscheine".
Für effektiv halte ich die Kopplung an den Schul- und Kindergartensport. Genau so wie der Kochunterricht ist das ein Weg, das Bewusstsein der heranwachsenden Generation zu verändern, ohne die Eltern zu gängeln und zu bevormunden.
Jari (Gast) - 27. Jan, 21:10

"(...) dass heißt, es herrscht Leistungsdruck (...), der ziemlich zuverlässig den Spaß am Sport abtötet. (...) - der Spaß an der Bewegung muss im Vordergrund stehen."

Wieso nur im Sport?
Meiner Erfahrung nach herrscht in allen (!) Fächern Leistungsdruck der den Spaß abtötet! Uns wird vor gemacht wir würden in einer Bildungsgesellschaft leben, aber genau betrachtet sehe ich nur eine Leistungsgesellschaft (oder positiver besetzt: funktional differenzierte Gesellschaft) - in der Leistung um der Leistung Willen erbracht wird. Die Schüler lernen für die Note.

Der abgeprüfte Stoff ist nicht mehr wichtig, denn er ist nicht für die nächste Klassenarbeit wichtig.
Und dann wundern sich die Leute, dass die Schüler sich nicht mehr für Mathe, Sport, Technik, Physik und Chemie begeistern?

In Klasse 1 haben fast alle Kinder Spaß an Sport, Mathe und Werkeln - in Klasse 4 ist Mathe schon recht negativ besetzt. In der Sekundarstufe I ist dann meiner Erfahrung nach vieles fächerübergreifend im argen ... Leistungsdruck und Prüfungsstress und dieses bescheuerte Schulsystem (besonders hier in BW) machen nunmal keine "staunend-entdeckenden Selberdenker"...

Yadgar (Gast) - 19. Jul, 18:33

Hartz IV macht depressiv, Depression macht dick

Hi(gh)!

Das Leben in der Unterschicht, vor allem als Hartzer, besteht zum großen Teil aus Frustration und Enttäuschung... irgendwann gibt man sich auf, es hat ja eh keinen Sinn, sich anzustrengen (Hartzer können sich das Schreiben von Bewerbungen eigentlich sparen, längere Arbeitslosigkeit im Lebenslauf ist ein todsicheres Kriterium für den Papierkorb). Irgendwann liegt man nur noch entweder im Bett oder hängt chipsmampfend vor der Glotze 1.0 (RTL) oder 2.0 (Internet), nicht einmal mehr zum Kochen reicht die Motivation, geschweige denn zu irgendwelchen sportlichen Aktivitäten. Da wächst dann natürlich die Wampe... und macht alles noch schlimmer.

Bis bald im Khyberspace!

Yadgar (1,81 m, 131 kg)

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