Claude Lévy-Strauss wird heute 100

Claude Lévi-Strauss ist schon lange der "große alte Mann" der Ethnologie bzw. Kulturantropologie,und wurde berühmt als einer der Begründer des Strukturalismus (obwohl er sich dagegen verwehrt, zu dieser philosophischen Richtung gezählt zu werden) und als Vorkämpfer der Kolonialismus- und Zivilisationskritik.

Die "Bricolage" (Bastelei), ist ein zentraler Begriff in Lévi-Strauss' Werk. Mit dem Bild des Bastlers, erklärt er die Entstehung und Weitergabe von Mythen. Ein Bastler erfindet nicht etwas völlig Neues, sondern improvisiert, er kombiniert das, was er gerade zur Hand hat. Statt radikal anzufangen, transformiert der Bastler das Bestehende, indem er es auf originelle Art und Weise zusammensetzt. Ein, wie ich finde, großartiges Bild.

Lévi-Strauss nennt die Psychoanalyse die moderne Form der schamanischen Technik. Dafür könnte ich ihn umarmen.

Es heißt, er hätte von Grund auf unser Bild vom Menschen verändert. Mag sein. Er hätte das "primitive" Denken rehabilitiert und dazu beigetragen, den Eurozentrismus zu überwinden. Wenn damit gemeint ist, dass Lévy-Strauss gegen ein zu einseitiges Verständnis der menschlichen Rationalität hinwies, und die fruchtbaren Funktionen von Mythen, Bräuchen und Traditionen ins Bewusstsein rückte, stimmt das. Aber der Eurozentrismus, die kulturelle Arroganz gegenüber den "Primitiven" ist leider noch nicht überwunden.
Lévy-Strauss tritt dafür ein, gegenüber allen Bräuchen und Sitten eine neutrale Haltung einzunehmen. Für die Kulturwissenschaften ist das richtig und wichtig, aber es stellt sich meiner Ansicht nach die Frage, ob sein extremer Kulturrelativismus, in Verbindung mit seinem Universalismus der Strukturen, nicht auch die politischen, ökonomischen und kulturellen "Eliten" dazu verführen könnte, sich vor moralischer Verantwortung zu drücken.
Auch seinen Kulturpessimusmus halte ich für nachvollziehbar, aber nicht immer für angebracht. Aber dafür, dass "Antiwestler" bis ins neurechte Lager seine Ansätze instrumentalisieren, kann er meiner Ansicht nichts.

Seine Werke werden, denke ich, nicht nur deshalb bestand haben, weil er ein hervorragender Schriftsteller ist. Mir wurde, wie vielen anderen auch, Lévy-Strauss durch seinen Bestseller "Traurige Tropen" bekannt. Es ist schon über ein halbes Jahrhundert her, dass sein sehr persönlich gefärbter Reisebericht erschien. Er berichtet darin von seinen in den 1930er-Jahren unternommenen Expeditionen zu den Indio-Stämmen der Boróro, Nambikwara, Mundé und Tupí-Kawahib in Brasilien.

nzz: Der Blick der Katze

taz: Mythen, Musik, Bastelei

Die Presse: Claude Lévi-Strauss: Auf der Spur des nackten Menschen
FFD (Gast) - 28. Nov, 12:37

Kulturrelativismus ...

... 'nicht auch die politischen, ökonomischen und kulturellen "Eliten" dazu verführen könnte, sich vor moralischer Verantwortung zu drücken.'

Jetzt bin ich etwas überrascht. Auch du? Ist das denn nicht eine modernen Illusion par excellence zu glauben, daß Eliten eine moralische Verantwortung zugewiesen werden kann? Ist es nicht schon fast der moderne Vater-Ersatz zu glauben oder zu fordern, in Nachfolge von Gott und König und Vaterland mögen jetzt bitte die Eliten die moralische Verantwortung übernehmen? Welche Moral denn bitte? Die eine gültige Moral gibt es noch im rheinland-pfälzischen Provinzkaff, wo ich nicht leben will, schon in Bayern auf dem Land gibt es mindestens zwei, und in Deutschland hunderte... darüberhinaus ist die Forderung nach moralischer Verantwortung in den Medien inflationär verbraucht - in den Siebzigern war man "betroffen", heute ist man "empört".

Meine Meinung: Eliten gehören transparent gemacht, reguliert, demokratisiert, geöffnet, verbreitert. Moral dagegen ist Privatsache, in einer komplexe Gesellschaft oder Kultur ist sie ein untaugliches Mittel, auch nur irgendein öffentliches Problem zu lösen.

MMarheinecke - 28. Nov, 15:54

Ich glaube, da verstehst du mich falsch

Ich bin auch der Meinung, dass Eliten transparent gemacht und demokratisiert gehören - und mit "Vaterfiguren" habe ich nichts am Hut. Was ich meinte, ist das sich "der Westen", oder genauer gesagt, die herrschende, nun ja, Oligarchie (Elite verstanden als Machtelite). Die gibt es nun mal, leider, und dafür sind auch wie "einfachen Bürger" mitverantwortlich. (Nicht schuldig, Schuldzuweisungen und die obligatorische Suche nach den Schuldigen bringen in ethischen Dingen nichts.) Nun ist die Ethik "des Westens" nicht gerade moralorientiert bzw. humanistisch zu nennen. Konkretes Beispiel: die blutige Aussengrenzen Europas, die Abschirmung der EU gegenüber Armutsflüchtlingen: Schätzungen zufolge sind seit 1988 eine halbe Million Menschen bei ihrem Versuch, in die EU hineinzukommen getötet worden.

Moral ist, anders als Religion, m. E. nicht Privatsache, sondern bezieht sich in erster Linie auf Beziehungen zwischen Menschen und Menschengruppen. (Ich weiß, ich habe das früher anders gesehen.) Unter "Moral" verstehe keine "Moralkodex" im Sinne "ungeschriebener Gesetze", denn die sind in der Tat, wie Du richtig erkannt hast, nicht universal. Ich nehme aber, übrigens mit Lévi-Strauss, an, dass es aber Haltungen, ethische Prinzipien, Grundvorstellungen, Archetypen, gibt, die allen Menschen gemeinsam sind. Wer in Not ist, dem hilft man - und gibt ihn nicht etwa einen Tritt, wenn er sich nicht helfen kann. Das gilt in Grönland ebenso wie im brasilianischen Regenwald, in der Namib-Wüste wie im Himalaja.
Gut, Sozialdarwinisten sehen das anders, und predigen das "Recht des Stärkeren". Dafür verachte ich sie. Bestimmte religiöse Fundamentalisten sehen das anders und verdammen die, die anders glauben als sie - und morden im Namen Gottes. Und begehen damit die einzige Gotteslästerung, die wirklich zählt. Und Nietzsche, den ich schätze, auch wenn er manchmal Mist schrieb, der bezeichnete Mitleid und Hilfsbereitschaft als verächtliche Sklavenmoral. Nun ja, er war bekanntlich in Wirklichkeit schwach und hilfebedürftig, darum verachte ich ihn wegen seiner un-menschlichen Kraftsprüche nicht. Die, die diese Kraftsprüche politisch instrumentalisierten, die Faschisten, die Nazis, hingegen sehr.

Ich befürworte das Projekt einer "offenen Gesellschaft". Und ich bin der tatsächlich der Ansicht, dass es eine Art "universelle Leitkultur" gibt, über die auch von Lévi-Strauss erkannten Gemeinsamkeiten aller Menschen hinaus gehen; sie besteht im Zusammenspiel von (diesseitigem) Humanismus und (wissenschaftlicher) Aufklärung.
Wirr-Licht - 29. Nov, 17:35

spannend

ich werde mir den herrn levi-strauss mal näher ansehen, ob der was taugt.

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