Sonntag, 19. Juni 2011

"Cyber-": Versuch einer kleinen Geschichte eines halben Reizwortes

Mein Artikel Cyber-... äh, Attrappe" machte mich neugierig: wie kommt es eigentlich, dass der Präfix "Cyber-" eine so starke und mit vielen Ängsten besetzte Reizwirkung hat? Schließlich ist die Kybernetik, von der sich "Cyber-" ableitet, eine wichtige und vielseitige, aber außer unter Fachleuten wenig beachtete Wissenschaft. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, in jüngerer Zeit Schlagzeilen z. B. über Rückkopplungen, Selbstorganisation oder Volition gelesen zu haben. Die Kybernetik ist bei vielen "aufregenden" und schlagzeilenträchtigen Themen entscheidend wichtig, wie dem (scheinbar) "anarchischen" Internet, "sozialen Netzwerken" und den Folgen, den Bedingungen, unter denen Empörung zur Revolution wird, den Ursachen und Folgen von Wirtschaftskrisen und immer wieder den Fragen der Ökologie, als Paradebeispiel einer "kybernetischer Wissenschaft". Kybernetik ist unentbehrlich um die moderne Welt auch nur annähernd zu verstehen, aber trotzdem ein publizistisches Mauerblümchen, was daran liegt, dass sie sehr abstrakt ist.

Ganz anders die mit "Cyber-" beginnenden Reizworte wie Cyberspace, Cyborg, Cyberwar, Cyberkriminalität, Cyberterrorismus usw.. Dabei fällt auf, dass alle diese Begriffe, wenn auch manchmal indirekt, "was mit Computern" zu tun haben.
Im großen und Ganzen lässt sich sagen: "Cyber-irgendwas" bezieht sich fast immer auf Dinge aus einem Anwendungsbereich der Kybernetik, der Informatik, und beschränkt sich innerhalb der Informatik auf wenige Gebiete, wie z. B. Robotik, Künstliche Intelligenz, "virtuelle Realität", Mensch-Maschine-Schnittstellen bis hin zur "Verschmelzung" von Mensch und Computer.
Oder anders gesagt: auf jene Gebiete, die oft in der Science Fiction thematisiert werden.

Ich versuche eine kleine, unvollständige, Chronologie, wie sich der Begriff "Cyber-" entwickelte.

1947 Norbert Wiener prägt dem Begriff "Cybernetics", abgeleitet vom griechischen kybernétes für "Steuermann", bald schon eingedeutscht als "Kybernetik". Wiener versteht darunter die die Wissenschaft von der Steuerung und Regelung von Maschinen, lebenden Organismen und sozialen Organisationen.

1946–1953 Die Macy-Konferenzen zur Kybernetik, zehn interdisziplinäre Konferenzen mit dem Ziel, die Grundlagen für eine allgemeine Wissenschaft der Funktionsweise des menschlichen Geistes zu schaffen. Sie werden in der Fachöffentlichkeit viel beachtet, der Begriff "Cybernetics" bürgert sich im englischen Sprachraum ein.

1950 Die bahnbrechenden Arbeiten John von Neumanns zur Architektur von Computern werden auch außerhalb der Fachkreise viel beachtet, als Erkenntnisse der neuen Wissenschaft Kybernetik.

1956 John McCarthy prägt den Begriff "artificial intelligence“ ("künstliche Intelligenz") als "griffige" Beschreibung der Themen der Dartmouth Conference für den Förderantrag bei der Rockefeller-Foundation. Dieses Schlagwort weckt sofort breites öffentliches Interesse und die Erwartung, dass es "sehr bald" denkende Computer und Roboter geben wird. Da die beteiligten Wissenschaftler allesamt "Kybernetiker" sind (sozusagen als gemeinsamer Nenner ihrer Fachgebiete), und die Forschung zur künstlichen Intelligenz eindeutig ein Gebiet der Kybernetik ist, wird der Begriff "Cybernetics" von nur an regelmäßig im Zusammenhang mit "denkenden Maschinen", "Elektronengehirnen" usw. verwendet.

Seit Ende der 50er-Jahre Journalisten und Science Fiction-Autoren (z. B. der polnische Autor Stanislaw Lem), benutzen "Kybernetik" als Synonym für Robotik.

1960 Manfred Clynes und Nathan S. Kline prägen den Begriff Cyborg ("Cybernetic organism").
In ihrem gemeinsamen Aufsatz Cyborg and Space schlagen sie vor, den Menschen mit technischen Mitteln an die Umweltbedingungen des Weltraums anzupassen, als Alternative zur künstlichen erdähnlichen Bedingungen an Bord von Raumschiffen. Mittels biochemischer, physiologischer und elektronischer Modifikationen sollen Menschen als "selbstregulierende Mensch-Maschinen-Systeme" im Weltraum überlebensfähig werden.
Obwohl das Konzept der Mensch-Maschinen-Hybriden schon lange vorher Thema der Science Fiction war, und bereits an "intelligenten Prothesen" bzw. künstlichen Organen geforscht wurde, setzt sich der griffige Begriff "Cyborg", wahrscheinlich befeuert durch das rege öffentliche Interesse an der Raumfahrt in den 60er-Jahren, schnell durch. Dabei wird er allerdings begrifflich unscharf (der
Wikipedia-Artikel gibt einen kleinen Eindruck davon).

Mitte der 60er-Jahre Ein Indiz, wie weit "Cyber-irgendwas"-Begriffe schon im englischen Sprachgebrauch verbreitet sind, ist der Titel einer Folge der beliebten Fernsehserie "The Avangers" The Cybernauts. Die "Cxbernauts" sind menschenähnliche Killer-Roboter. (In der deutschen Fassung "Mit Schirm, Charme und Melone" heißt die Folge schlicht "Die Roboter".)

Zweite Hälfte der 60er-Jahre
Eine Zeit lang wird im deutschen Sprachraum "Kybernetik" oft synonym zu Informatik bzw. Computerwissenschaft gebraucht. Je mehr Computer zum Alltag gehören, desto mehr schwindet dieser Sprachgebrauch.

1970 Die Control Data Corporation bringt den ersten Großrechner der CDC Cyber-Familie auf den Markt. Die "Cybers" galten lange als die leistungsfähigsten "Supercomputer" der Welt. Die entsprechende Medienaufmerksamkeit trägt dazu bei, das Präfix "Cyber-" populär zu machen und eng mit der Vorstellung von Hochleistungscomputern zu verbinden.

um 1980 Es bildet sich ein neues Subgenre der Science Fiction heraus, der Cyberpunk. Der ursprüngliche "Cyberpunk" ist eine dystopische ("negativ-utopische) Richtung der SF und geht im wesentlichen von zwei Fragen aus:
  1. Was wäre wenn der Staat (die Staaten) von großen Konzernen kontrolliert würden, die die staatliche Monopol-Macht für ihre Zwecke instrumentalisieren ("Konzernherrschaft", "staatsmonopolistischer Kapitalismus")?
  2. Was wäre wenn praktisch die gesamte Kommunikation und alle ökonomischen Transaktionen in einem weltweiten, nicht hierachischen Datennetz ablaufen würden?
Im Laufe der Jahre werden nicht nur typische Themen des Cyberpunks wie Nanotechnologie, Gentechnik und virtuelle Realität, bzw. Konzernmacht, Manipulation der Massen und Subkultur der Hacker Teil der Mainstream-Literatur, sondern auch die reale Welt gleicht mehr und mehr einer typischen Cyberpunk-Dystopie der 80er Jahre.

1982: Der Cyberpunk-Autor William Gibson prägt in seiner Kurzgeschichte "Burning Chrome" den Begriff Cyberspace. "Cyberspace" umschreibt eine Verbindung aus weltweitem Computernetz (vergleichbar mit dem Internet) mit virtueller Realität. Anstelle wie heute mit einem Browser auf die Seiten des WorldWideWeb zuzugreifen, greift der User im Cyberspace über eine neuronale Schnittstelle (quasi einen "Computeranschluss an das Gehirn") auf die "Matrix" zu. Eine
konsensuelle Halluzination eines computergenerierten grafischen Raums macht es dem Cyberspace-User möglich, sich intuitiv im Datennetz zu orientieren.

1984 James Cameron dreht mit eher bescheidenem Buget den Film Terminator. Der sehr erfolgreiche Actionfilm verbindet die SF-Themen Zeitreise, "Machtübernahme" durch intelligente Maschinen und Cyborg.
Er thematisiert die Ängste vor unkontrollierbar werdenden Computersystemen und prägt nebenbei deutlich die populäre Vorstellung von einem "Cyborg" (außen Schwarzenegger, innen Metall).

1987 Der Film Robocop popularisiert Elemente des Cyberpunks und das Konzept des Cyborgs als von einem menschlichen Gehirn gesteuertem Roboter.

1991 Das World Wide Web wird weltweit zur allgemeinen Benutzung freigegeben. Schnell erkennen Fachpublizisten die Ähnlichkeit mit dem Konzept des "Cyberspace", obwohl von einer "virtuellen Realität" im Zusammenhang mit dem WWW noch keine Rede sein kann.

90er-Jahre In der Umgangssprache wird Ausdruck Cyberspace oft als Synonym für das Internet oder, spezieller, das WWW verwendet. Wortprägungen wie "Cybernaut" (im Sinne eines "Astronauten im Cyberspace"), "Cybermobbing", "Cyberverbrechen","Cyberkultur", "Cyber-Attacke" usw. folgen.

1991 der US-Sicherheitsexperte Winn Schwartau prägt den Begriff "electronic Pearl Harbor" - eines Überraschungssangriffs z. B. mit DDos oder Viren auf die Kommunikationsnetze der USA und ihrer Verbündeten. In diesem Zusammenhang werden später die Begriffe "cyberwar" und "cyberterrorism" geprägt.

1992 Das Pentagon prägt in der Direktive TS-3600.1 den Begriff des "Information Warfare", des "Informationskrieges".

1993 veröffentlichte der einflussreiche Publizist John Arquilla seinen ersten Artikel (von zahlreichen) über "Cyberwar". Er arbeitet für RAND, eine Pentagon-nahe Denkfabrik. Später berät er Donald Rumsfeld (Verteidigungsminister unter Präsident George W. Bush).

1997 Der Begriff Cybercop für einen im "Cyberspace" (gemeint ist das Internet) agierenden Polizisten wird im U.S. "Report to the President's Commission on Critical Infrastructure Protection" verwendet. Spätestens damit erreicht der Präfix "Cyber-" die offizielle politische Sphäre.

2001 Ein viel diskutierter Artikel auf "telepolis" Selbstkontrolle statt Cyberpolizei und Filter? bürgert den (ursprünglich kritisch gemeinten) Begriff "Cyberpolizei" ein.

ab 2002 Im Zuge des nach den Attentaten des 11. September 2011 ausgerufenen "War on Terror" gewinnt der Begriff Cyberwar, der über die zwischen Staaten und Unternehmen üblichen und längst auch mit Mitteln des Computerzeitalters geführten Spionage-Spionageabwehr-Kleinkriegs hinaus geht, an Boden. Das Schreckgespenst einer z. B. durch DDos-Angriffe lahmgelegten Infrastruktur wird vor allem von Beratern der Regierung Bush jr. an die Wand gemalt. Die Rede ist von einem drohenden "electronic 9/11".

2008 Krieg zwischen Russland und Georgien. Angeblich wird er auch mit Mitteln des "Cyberwar" ausgefochten. Dazu die taz: Das Phantom des Cyberwar.

2000er Jahre Die (jugendliche?) Subkultur der "Cyber" (und der "Cybergoths") mit einer dem "Cyberpunk" entlehnten Ästhetik bildet sich heraus, stark beeinflusst vom Stil der ursprünglich aus Japan stammenden Visual Kei.
(Später bildet sich eine entsprechende und keineswegs auf junge Menschen beschränkte Steampunk-Szene heraus. Ein bekannter Ausspruch: "Cyberpunks sind Goths, die außer schwarz Neonfarben für sich entdeckten, Steampunks Goths, die außer schwarz sepia und braun für sich entdeckten.")

2010 Das Cyber Command der US-Streitkräfte wird offiziell in Dienst gestellt. Schon seit einigen Jahren gilt in den USA die Doktrin der "Network Centric Warfare". Kernbestandteile sind die Informationshoheit sowie die informationelle Vernetzung von Soldaten. Unter diese Doktrin fallen auch traditionelle Konzepte wie die psychologische Kriegsführung sowie die Störung von Radar- und Funksignalen. Zu den Aufgaben des "Cyber Command" sollen auch offensive "Cyberattacken" gehören. Der "Cyberwar" wird zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung.

2011 Das deutsche "Cyber-Abwehrzentrum" wird eröffnet - die Cyber ... äh, Attrappe.

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