Mittwoch, 4. Mai 2011

Aristoteles, die Eintagsfliege und die Besserwisser

Ich fand in einem Artikel Sascha Lobos über internetgestützte Besserwisser etwas sehr spannendes. Damit meine ich nicht Lobos Ausführungen über Besserwisser, die hinterher, dank Google, genau wissen, warum etwas geschah und wie man es hätte besser machen könne. Ich meine seinen Hinweis auf einen wirklich interessanten, schon etwas älteren, "scienceblogs"-Artikel von John Wilkins:
Aristotle on the mayfly.
Der Kern von Wilkins Beitrag und der Anfang von Sachas Lobos Schulmeisterei über Besserwisser, ist, dass Aristoteles um das Jahr 350 vor unserer Zeitrechnung schrieb: "Eintagsfliegen bewegen sich auf vier Beinen". Solche und ähnliche Aussagen veranlassen moderne Autoren immer wieder dazu, über antike Philosophen und Wissenschaftler wie in dieser EMBO Veröffentlichung zu schreiben:
Ancient Greek philosophers laid the groundwork for the scientific tradition of critical inquiry, but they nevertheless missed out on one aspect important to modern science. Many philosophers obtained their results through a tradition of contemplation and thought rather than experimental procedure, which, not surprisingly, led to errors. Aristotle’s belief that the brain is a cooling organ for the blood was definitely not based on anything that scientists today would consider scientific evidence. He also thought that in humans, goats and pigs, males have more teeth than females, a notion easy enough to correct. His statement that flies have four legs was repeated in natural history texts for more than a thousand years despite the fact that a little counting would have proven otherwise.
(Die antiken griechischen Philosophen legten den Grundstein für die wissenschaftliche Tradition der kritischen Untersuchung, aber ihnen fehlte dennoch ein wichtiger Aspekt der modernen Wissenschaft. Viele Philosophen kamen eher durch eine Tradition der Kontemplation und des Nachdenkens zu ihren Ergebnissen, als durch Experimente, was, nicht überraschend, zu Fehlern führte.
Aristoteles Überzeugung, dass das Gehirn ein Organ für die Kühlung des Blutes wäre, gründet definitiv auf nichts, was Wissenschaftler heute als wissenschaftliche Evidenz ansehen würden. Er dachte auch, dass männliche Menschen, Ziegen und Schweine mehr Zähne hätten als weibliche, eine Ansicht, die leicht richtig zu stellen wäre. Seine Aussage, dass Fliegen vier Beine hätten, wurde in naturkundlichen Texten für mehr als tausend Jahren wiederholt, trotz der Tatsache, dass ein wenig Zählen etwas anderes bewiesen hätte.)
War Aristoteles also ein schlechter Beobachter? Wilkins meint nein. (Was meine besserwisserische Seite freut, denn dieser Ansicht bin ich schon seit der Zeit, als ich noch fürs Abi büffelte. Allerdings nicht ohne Anstoß durch eine ziemlich unkonventionell denkende Philosophie-Lehrerin.)
Damit, dass das Gehirn das Blut abkühlt, hatte Aristoteles recht. Dass das nicht der Hauptzweck des Gehirns sein sollte (aber bei manchen Zeitgenossen offensichtlich ist), ergibt sich aus einer reinen Beobachtung ohne Hilfsmittel nicht. Wo der Sitz der Gedanken war, darüber konnte man zu seiner Zeit nur raten - und er riet, indem er einer Tradition folgte, die das Herz als Kern des menschlichen Wesens sah, daneben.
Zähne zählen sagt sich leicht. Nur weniger Menschen haben ein vollzähliges Gebiss, und zu Aristoteles Zeiten verloren Frauen meistens in früherem Alter Zähne als Männer, bedingt durch den erhöhten Kalziumbedarf bei Schwangerschaften. Noch im 19. Jahrhundert hieß es, dass jedes Kind der Mutter einen Zahn kostet.
Vielleicht hätte er, in Anlehnung an seinen Lehrer Platon schreiben können, die "Idee" (wir würden sagen: die Idealvorstellung) eines Gebisses wäre ein vollständiges Gebiss, und das hätte bei Mann wie Frau 32 Zähne. Vielleicht schrieb er das sogar wirklich. Er schrieb, im erhaltenen Text, über die konkrete, alltägliche Wirklichkeit, so wie er sie beobachtet hatte, bzw. wie sie ihm berichtet wurde. Das Problem dabei liegt nicht darin, dass Aristoteles ein schlechter Beobachter gewesen wäre - es fehlte ihm einfach noch am methodischen Handwerkszeug, um etwa statistische Aussagen wie: "im Bevölkerungsdurchschnitt hat ein männlicher Einwohner Athens 2,4 Zähne mehr als ein weiblicher" machen zu können - übrigens hätte ich mich mit den "2,4 Zähnen" bei jedem vorneuzeitlichen Denker zum Narren gemacht. (Aristoteles machte übrigens die Logik zur Wissenschaft, lieferte also die Grundlage für die heute gebräuchlichen Methoden der Wissenschaft.)
Nachtrag, weil ich gemerkt habe, dass meine Aussage missverständlich ist: Aristoteles kannte die notwendige Mathematik, um Begriffe wie "Durchschnitt" zu begreifen, er dachte aber anders als ein moderner Naturwissenschaftler.
Bei der Eintagsfliege schrieb Aristoteles nicht etwa, dass diese vier Beine hätte, sondern, dass sie auf vier Beinen geht - was bei männlichen Eintagsfliegen völlig richtig ist, bei ihnen sind nämlich die vorderen Beine zu Greiforganen für die Kopulation umgebildet.

Wenn jemand meint, dass meine (und Wilkins) Darlegungen haarspalterisch seien, dann stimmt das zwar, aber bei Aristoteles wird traditionell jedes Wort auf die Goldwaage gelegt. Die an eine breite Öffentlichkeit gerichteten Schriften des Aristoteles in Dialogform gingen nämlich verloren. Durch einige glückliche Zufälle blieben viele der für interne Unterrichtzwecke gedachten, fortlaufend redigierten Lehrschriften (man würde heute sagen: Vorlesungsskripte) erhalten. Darin wird aber offensichtlich Vieles einfach als bereits bekannt vorausgesetzt, und abgerundete Schlussfolgerungen sind darin nur selten enthalten. Weil aber entscheidende Teile seines Werkes nicht überliefert wurde, gewinnen Versuche, aus dem vorhandenen Text zu schießen, was Aristoteles gedacht haben könnte, zwangsläufig an Bedeutung.

Zu Aristoteles als Naturforscher ist zu sagen, dass er empirische Forschung betrieb. Seine Beobachtungen an Tieren sind allgemein so präzise, dass die Möglichkeit, dass er sich bei den Fliegenbeinen schlicht verzählt hätte, getrost vernachlässigt werden kann.
Sicher ist, dass er sogar tote Tiere und menschliche Leichen sezierte oder sezieren ließ. Er untersuchte sogar in festgelegten zeitlichen Abständen befruchtete Hühnereier, um zu beobachten, in welcher Reihenfolge die Organe sich entwickeln.
Neben eigenen Beobachtungen und einigen wenigen Textquellen stützte sich seine Zoologie auf Informationen von Menschen, die von Berufs wegen Tiere beobachten, wie von Fischern, Imkern, Jägern und Viehzüchtern. Allerdings übernahm er auch Irrtümer - vor allem, wenn sie zu seiner Zeit weit verbreitet waren.

Es stimmt zwar, dass viele Philosophen eher durch Kontemplation und reines Nachdenken zu ihren Ergebnissen kamen, aber das trifft z. B. weitaus mehr auf Aristoteles Lehrer Platon zu. Dessen bevorzugte Methode, die Dialektik (ein von Platon geprägter Begriff), eignet sich nicht zur Behandlung jeder Frage. Auf manche Stoffgebiete, die Naturwissenschaften zum Beispiel, lässt sich diese Methode nicht anwenden. Aristoteles musste also zwangsläufig auch empirisch arbeiten, wenn er Wissensgebiete bearbeiten wollte, die sein Lehrer nicht berücksichtigt hatte.
Was allerdings stimmt: Experimentiert hat er wohl nicht. Was nicht bedeutet, dass es keine antiken Wissenschaftler gegeben hätte, die experimentiert hätten.

War Aristoteles tatsächlich ein "Bremsklotz" für den Fortschritt der Wissenschaft? Bertrand Russel meinte, dass Aristoteles gewaltige Verdienste, aber auch nachteilige Einflüsse auf seine Nachfolger gehabt hätte. Hierfür seien jedoch seine Nachfolger stärker verantwortlich zu machen, als er selbst.
Man könnte auch sagen: Was kann Aristoteles dafür, dass er für die abendländischen Gelehrten des späten Mittelalters eine fast so unbestrittene Autorität wie die Kirche war und daher nicht ohne Weiteres kritisiert werden konnte?
Das hatte zur Folge, dass damit auch Aristoteles Meinungen und Irrtümer, etwa zur Demokratie (die er ablehnte), zur Sklavenhaltung, zur Stellung der Frau oder auch zur Stellung der Erde im Universum (im Mittelpunkt, meinte Aristoteles) praktisch jeder Kritik entzogen waren. Ein Aristoteles-Zitat hatte im späten Mittelalter unter Klerikern fast die selbe Autorität wie ein Bibelzitat - und die Kleriker hatten de facto das Bildungsmonopol.

Ich stimme Russel darin zu, dass, auch wenn einer seiner Vorgänger (ausgenommen vielleicht Demokrit) die gleiche Bedeutung erlangt hätte wie Aristoteles, die Folgen nicht minder katastrophal gewesen wären.

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