Donnerstag, 12. August 2010

Aus der Wunderwelt der gut-doofen Filme: Das Dschungelbuch (Disney)

Die meisten "gut-doofen" Filme sind doof, aber trotzdem irgendwo, auf ihre Weise, gut.
Dieses Mal geht es um einen Film, der wirklich gut ist, sogar zurecht als Klassiker und Meisterwerk seines Genres gilt - aber zugleich wirklich grottenolmig dämlich ist. 100 % gut, 100 % doof - und derselbe Film. (Das ist so ähnlich wie mit dem Welle-Teilchen-Dualismus in der Quantenphysik - die damit auch für das Gebiet der Filmkritik ihre Gültigkeit beweist Zwinkern.)

Es geht um den Zeichentrickfilm Das Dschungelbuch.

Der letzte von Walt Disney selbst produzierte Zeichentrickfilm gilt zurecht unter nicht wenigen Filmfreunden als der beste Film aus Disneys Werkstatt. Andere finden ihn grässlich - ebenfalls zurecht.
Das Dschungelbuch polarisierte vor allem amerikanische Kritiker. Einige Lobeshymnen feierten den Film, weil er etwas völlig Eigenständiges aus der Vorlage gemacht habe, die Songs wahre Ohrwürmer und die Animationen und Hintergründe Glanzleistungen seien. Doch gab es auch harsche Kritiken, die dem Film einen Mangel an Atmosphäre und Spannung vorwarfen. Mittelmäßige Kritiken fanden sich kaum.
Das Dschungelbuch (1967) (wikipedia.de)

Warum ist "Das Dschungelbuch" ein richtig guter Film? Zwar wird in praktisch allen abendfüllenden Disney-Filmen ausgiebig gesungen, aber das Konzept eines Zeichentrick-Musicals wurde bei Disney vorher und später nie so konsequent umgesetzt. Der Film hat alle Stärken der "klassischen" Disney-Filme, besonders die liebevolle zeichnerische Gestaltung. Er profitiert sehr davon, dass die für viele Disney-Filme typische sentimentale Liebesgeschichte auf ein Minimum reduziert wurde - und damit die Gelegenheiten, Disney-Kitsch unterzubringen. Das "Dschungelbuch" ist, selbst wenn man strenge Maßstäbe anlegt, kindgerecht, aber auch für Erwachsene unterhaltsam.
Vor allem aber profitiert der Film von der Musik. Das bekannteste Lied ist "The Bare Necessities" ("Probier's mal mit Gemütlichkeit") (von Terry Gilkyson, Oscar-Nominierung). Die deutsche Fassung ist meiner Ansicht nach eines der wenigen Beispiele für einen deutschen Text eines Disney-Film-Songs, der mindestens so gelungen ist wie das Original - wahrscheinlich, weil die deutsche Fassung streng genommen keine Übersetzung, sondern eine Neudichtung ist:


Die liebevolle deutsche Synchronfassung, die auf einer größtenteils sehr freien Übersetzung des Originals beruht, trug viel dazu bei, dass "Das Dschungelbuch" im deutschen Sprachraum einen "Kultstatus" erwarb, den der Film in den USA niemals erreichte. Ich kenne die deutsche und die englische Fassung, und habe den Eindruck, dass die deutsche Fassung viele Schwächen des Originaldialogs ausbügelte und einfach witziger ist. Ich kann die US-Kritiken, die "The Jungle Book" zu wenig Atmosphäre vorwarfen, nach dem Ansehen der Originalfassung zumindest nachvollziehen.

Aber "Das Dschungelbuch" ist auch ein richtig doofer Film. Nicht deshalb, weil es mit seinen lustigen Buschbewohnern ein Etikettenschwindel ist, denn das Zeichentrick-Musical hat mit Rudyard Kiplings "The Jungle Book" bis auf einige Elemente der Grundhandlung und die Namen der Protagonisten nichts gemeinsam. Walt Disney wollten einen heiteren, witzigen Film für die ganze Familie und bekam ihn, auch wenn das bedeutete, dass die enger an Kipling angelehnten, also düstereren und dramatischen, ursprünglichen Storyboards und die komponierten Filmsongs (bis auf "The Bare Necessities") verworfen wurden.
Dieser Etikettenschwindel schadet dem Film nicht - wohl aber dem Ruf der für "jugendbuchverhältnisse" ziemlich philosophisch angelegten literarischen Vorlage.
Aus der Sicht wohl aller halbwegs auf inhaltliche Tiefe und die Integrität ihrer Schöpfungen bemühten Schriftsteller wäre es ein mittelschwerer Alptraum, ihr Werk auf diese Weise "disneyfiziert" zu sehen.

Noch zu Lebzeiten von J.R.R. Tolkien sicherte sich Walt Disney 1956 die Filmrechte am "Der Herr der Ringe". Allerdings empörte sich Tolkien derart über den ihm zwei Jahre später vorgelegten Drehbuchentwurf, dass er testamentarisch verfügen ließ, eine Verfilmung seiner Werke durch Disney zu verbieten. 1959 zog Disney dann seine Option zurück. Ich habe wenig Zweifel daran, dass Joseph Rudyard Kipling zu Lebzeiten ähnlich gehandelt hätte.

Disney bekannte sich nicht nur dazu, reine Unterhalt zu produzieren - was ja nichts Verwerfliches ist - sondern kultivierte geradezu die Oberflächlichkeit seiner Filme. Er wollte keine Kunst produzieren. Dass die ambitionierteren Filme "Phantasia" und "Dornröschen" (aus Disney erfolgsverwöhnter Sicht) erst einmal (relative) kommerzielle "Flops" waren, bestätigte ihn in seiner Haltung, dass zu viel Niveau nur das Publikum vergrault. Ein tieferer Grund mag gewesen sein, dass Disney politisch sehr konservativ war, und sich vor politischen und gesellschaftskritischen Deutungen der unter seiner Leitung entstandenen Werke geradezu gefürchtet zu haben scheint. Ein einfaches Gegenmittel: Was keine Tiefe besitzt, lässt auch keinen Raum für Ausdeutung.
Dem Konzept der absichtlichen Oberflächlichkeit blieben auch seine Nachfolger weitgehend treu.

Das "Dschungelbuch" passt in eine in sehr vielen Disney-Produktionen (von "Schneewitchen" über "König der Löwen" bis "Findet Nemo") immer wiederkehrende "Disney-Standard-Storyline": Ein Kind verliert seine Eltern oder wird von ihnen getrennt, das Kind muss eine Reise antreten und schließt dabei Freundschaft zu eher "zwielichtigen" Charakteren, die es begleiten. Es gibt Verschwörungstheoretiker, die darin eine verborgene, manipulative Agenda sehen, vor allem, wenn sie wissen, wie weit politisch rechts Walt Disney stand. Ich sehe darin eine einfache Formel, die funktioniert und deshalb ohne viel nachzudenken wieder und wieder angewendet wird. Im Falle des "Dschungelbuchs" war es wohl eine zu einfache Formel. Am Besten lässt sich dieser ausgesprochene Nichtdenkerstreifen genießen, wenn man ihn als Nummernrevue oder als Aneinanderreihung von Musikvideos sieht, und die Handlung dazwischen nicht weiter beachtet.

Zur Zeit seiner Erstaufführung (1967 / 68) wurde "The Jungle Book" in den USA sogar Rassismus vorgeworfen. Aus heutige Sicht und aus europäischer Perspektive wirkt das überzogen. Sieht man aber den Film vor dem Hintergrund der Rassenunruhen der 60er Jahre, der Bürgerrechtsbewegung und den politischen Morden an Malcom X, Martin Luther King und Robert Kennedy an, dann ist ein gewisses Unbehagen nachvollziehbar. Der Affenkönig King Louie war wahrscheinlich nicht absichtlich rassistisch gemeint - vielleicht war er sogar eine humorvolle Hommage an den "King of Jazz" Louis Armstrong. Aber 1967 / 68 stieß es unangenehm auf, dass ein Orang-Utan aus dem Dschungel einen als "schwarz" geltenden New Orleans-Akzent spricht (obwohl er vom "weißen" New-Orleans-Jazzer Louis Prima synchronisiert wurde) "schwarze" Musik, also Jazz, macht und einige (eindeutig einer "schwarzen" Tradition entstammenden) Scat-Einlagen bringt. Der Rassismus-Vorwurf kam daher, dass King Louis gerne genauso wäre wie Mowgli, der, obwohl eindeutig als indischer Junge gezeichnet, wohl als "weiß" eingeordnet wurde: "I Wanna Be Like You". Die Interpretation, dass sich "Das Dschungelbuch" über "Affen" lustig macht, die gleichberechtigt sein wollen, was nur Chaos und Zerstörung nach sich zieht, ist vielleicht doch nicht völlig an den Haaren herbeigezogen.
Viele Kritiker werden sich an den 1946 erschienene Disney-Film "Song of the South" ("Onkel Remus' Wunderland") erinnert haben, der deutliche rassistische Untertöne hat. Der von James Baskett gespielte Schwarze Sklave Remus war so einfältig angelegt, dass ihm sogar der Zeichentrickhase "Meister Lampe" intellektuell überlegen war. (Wahrscheinlich aus Image-Gründen ist "Onkel Remus' Wunderland" nie auf DVD herausgekommen, trotz des Wunsches vieler Fans.) Übrigens war Mowgli die erste nicht eindeutig "weiße" menschliche Hauptperson in einem Disney-Zeichentrickfilm. Bis zur ersten eindeutig "schwarzen" Disney-Trickfilm-Hauptfigur sollten weitere 40 Jahre vergehen.

Dass Disneys "Dschungelbuch" unterhaltsam, aber strohdumm war, fiel mir übrigens schon als Junge auf, wenn auch nicht gleich beim ersten Ansehen - ich sah den Film das erste Mal an meinem 7. Geburtstag. Als ich ihn, so mit 9, zum zweiten Mal sah, fielen mir, als elend altklugem Besserwisser, Typ "kleiner Professor", zahlreiche "Fehler" auf - mir wären noch mehr aufgefallen, wen ich Kiplings "Das Dschungelbuch" damals schon gelesen hätte. Der auffälligste Fehler: Woher hat Mowgli seine unverwüstliche und anscheinend mitwachsende rote Hose? (Kein selbst gemachter Ledenschurz wie der von "Tarzan", der noch irgendwo plausibel war.) Es ist bezeichnend, dass ich sprechende Tiere, jazzende Affen und hypnotisierende Schlangen weitaus leichter akzeptierte ...

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