"Rückkehr der Religion": eine Vermutung und zwei alte Zitate
Die "Rückkehr der Religion" ist, zumindest in Westeuropa, eine leere Behauptung: nach wie wächst der Anteil der Konfessionslosen (was nicht das selbe ist wie "Atheisten"). Anderseits blühen Formen der Spiritualität und Religiosität abseits der "großen Religionen".
Wenn es eine "Renaissance des Glaubens" gibt, dann geht sie an den beiden großen Kirchen fast völlig vorbei. Der reale gesellschaftliche Einfluss der Kirchen schrumpft nach wie vor.
Weshalb gibt es eine regelrechte Medienkampagne, um die Funktion der Großkirchen als "moralische Instanz" zu stärken?
Warum gibt es ständig Versuche, eine "christliche Leitkultur" zu (re-)etablieren?
Wobei es ja nicht irgendein Christentum ist. Es ist ein von protestantischer Ethik, von innerweltlicher Askese, dem Einhalten vom Regeln, Selbstdisziplin und Unterordnung geprägtes Christentum - was sogar für den deutschen Katholizismus gilt, der im Zuge der jesuitischen Gegenreformation viele Elemente prostestantischer Ethik übernahm. "Sinnenfroh und tolerant" ist der der deutsche Katholizismus nur in wenigen Regionen - so wie der deutsche Protestantismus auch nur selten so "aufgeklärt, abgeklärt und nüchtern" ist, wie es das Klischee will. Nach wie vor gefallen sich viele deutsche Christen beider großer Konfessionen (vor allem die mit Macht und Einfluss) gern als Sitten- und Tugendwächter. (Bei gleichzeitiger Doppelmoral.)
Und wieso trägt das System der gegenseitigen Instrumentalisierung von Kirchen und (Partei-)Politik nach wie vor?
Ich vermute: Das ist so, weil unser Staat, so wie er ist, und unser Wirtschaftssystem, so wie es ist, auf einer bestimmten, "sitten-protestantischen", Form der Religion aufbaut, und weil unsere Gesellschaft auch deshalb funktioniert, weil sie nach wie vor "sittenchristlich" geprägt ist.
Eine Aufweichung dieser "christlichen Leitkultur", sei es durch einen wachsenden Anteil an Agnostikern und Atheisten, sei es durch einen wachsenden Anteil an Nichtchristen (vor allem Moslems), sei es durch einen Wertewandel, der "sittenchristliche" Normen in Frage stellt, ist daher eine durchaus reale Bedrohung für den gesellschaftlichen Status Quo.
Wohl deshalb gibt es einen "Kirchenstaat Deutschland", eine unzureichende Trennung zwischen Staat und Kirche (Kirchensteuern sind für eine Demokratie ein schlechter Witz!), und einen überproportional großen Einfluss der Kirchen auf Medien, Schule und Kultur.
Der "klassische Kapitalismus" des Industriezeitalters hätte ohne religiöse Grundlage nicht funktioniert - und umgekehrt wiederum die Religion nicht ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse. Wieso, das erkannte und beschrieb Marx schon 1844:
Auch wenn es unbequem und schrecklich materialistisch ist: Ich denke, Marx hat im Großen und Ganzen recht! Die Kirchen sind so wie sie sind, weil die Gesellschaft so ist, wie sie ist. Das gilt auch für den "spirituellen Supermarkt" - Esoterik-Kritik ist wichtig, aber ohne gesellschaftlichen Strukturwandel, ohne Emanzipation, werden die "Seelenverkäufer" nach wie vor ihren Markt finden.
Heute ist es so, dass ein Zustand aufrecht erhalten werden soll, der, weil die Gesellschaft sich wandelt, möglicherweise in ein paar Jahren nicht mehr bestehen wird.
Es gibt aber eine Lücke bei Marx - folgt man ihm, dann könnte die Religion auch eine reine Inszenierung sein, in der das "dumme Volk" hinters Licht geführt wird - und in der die Drahtzieher entweder lügen oder wenigstens sich selbst belügen. Allerdings ist es m. E. wichtig, im Auge zu behalten, was das "christliche-protestantische" Glauben und Denken auch bei den "Drahtziehern" bewirkt - denn sie sind ja oft tief und aufrichtig gläubig.
Leicht überspitzt: was haben der Niedriglohnsektor, die Selbstgerechtigkeit gegen Langzeitarbeitslose und das gute Gewissen der Besserverdienenden gemeinsam? Ohne asketischen Protestantismus gäbe es das nicht!
Wenn es eine "Renaissance des Glaubens" gibt, dann geht sie an den beiden großen Kirchen fast völlig vorbei. Der reale gesellschaftliche Einfluss der Kirchen schrumpft nach wie vor.
Weshalb gibt es eine regelrechte Medienkampagne, um die Funktion der Großkirchen als "moralische Instanz" zu stärken?
Warum gibt es ständig Versuche, eine "christliche Leitkultur" zu (re-)etablieren?
Wobei es ja nicht irgendein Christentum ist. Es ist ein von protestantischer Ethik, von innerweltlicher Askese, dem Einhalten vom Regeln, Selbstdisziplin und Unterordnung geprägtes Christentum - was sogar für den deutschen Katholizismus gilt, der im Zuge der jesuitischen Gegenreformation viele Elemente prostestantischer Ethik übernahm. "Sinnenfroh und tolerant" ist der der deutsche Katholizismus nur in wenigen Regionen - so wie der deutsche Protestantismus auch nur selten so "aufgeklärt, abgeklärt und nüchtern" ist, wie es das Klischee will. Nach wie vor gefallen sich viele deutsche Christen beider großer Konfessionen (vor allem die mit Macht und Einfluss) gern als Sitten- und Tugendwächter. (Bei gleichzeitiger Doppelmoral.)
Und wieso trägt das System der gegenseitigen Instrumentalisierung von Kirchen und (Partei-)Politik nach wie vor?
Ich vermute: Das ist so, weil unser Staat, so wie er ist, und unser Wirtschaftssystem, so wie es ist, auf einer bestimmten, "sitten-protestantischen", Form der Religion aufbaut, und weil unsere Gesellschaft auch deshalb funktioniert, weil sie nach wie vor "sittenchristlich" geprägt ist.
Eine Aufweichung dieser "christlichen Leitkultur", sei es durch einen wachsenden Anteil an Agnostikern und Atheisten, sei es durch einen wachsenden Anteil an Nichtchristen (vor allem Moslems), sei es durch einen Wertewandel, der "sittenchristliche" Normen in Frage stellt, ist daher eine durchaus reale Bedrohung für den gesellschaftlichen Status Quo.
Wohl deshalb gibt es einen "Kirchenstaat Deutschland", eine unzureichende Trennung zwischen Staat und Kirche (Kirchensteuern sind für eine Demokratie ein schlechter Witz!), und einen überproportional großen Einfluss der Kirchen auf Medien, Schule und Kultur.
Der "klassische Kapitalismus" des Industriezeitalters hätte ohne religiöse Grundlage nicht funktioniert - und umgekehrt wiederum die Religion nicht ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse. Wieso, das erkannte und beschrieb Marx schon 1844:
Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben, oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, ausser der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Societät. Dieser Staat, diese Societät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewusstsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Compendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d'honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (Einleitung), 1844
Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.
Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.
Auch wenn es unbequem und schrecklich materialistisch ist: Ich denke, Marx hat im Großen und Ganzen recht! Die Kirchen sind so wie sie sind, weil die Gesellschaft so ist, wie sie ist. Das gilt auch für den "spirituellen Supermarkt" - Esoterik-Kritik ist wichtig, aber ohne gesellschaftlichen Strukturwandel, ohne Emanzipation, werden die "Seelenverkäufer" nach wie vor ihren Markt finden.
Heute ist es so, dass ein Zustand aufrecht erhalten werden soll, der, weil die Gesellschaft sich wandelt, möglicherweise in ein paar Jahren nicht mehr bestehen wird.
Es gibt aber eine Lücke bei Marx - folgt man ihm, dann könnte die Religion auch eine reine Inszenierung sein, in der das "dumme Volk" hinters Licht geführt wird - und in der die Drahtzieher entweder lügen oder wenigstens sich selbst belügen. Allerdings ist es m. E. wichtig, im Auge zu behalten, was das "christliche-protestantische" Glauben und Denken auch bei den "Drahtziehern" bewirkt - denn sie sind ja oft tief und aufrichtig gläubig.
Mit dem Bewußtsein, in Gottes voller Gnade zu stehen und von ihm sichtbar gesegnet zu werden, vermochte der bürgerliche Unternehmer, wenn er sich innerhalb der Schranken formaler Korrektheit hielt, sein sittlicher Wandel untadelig und der Gebrauch, den er von seinem Reichtum machte, kein anstößiger war, seinen Erwerbsinteressen zu folgen und sollte dies tun. Die Macht der religiösen Askese stellt ihm überdies nüchterne, gewissenhafte, ungemein arbeitsfähige und an der Arbeit als gottgewolltem Lebenszweck klebende Arbeiter zur Verfügung.Max Weber: Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus, 1904
Leicht überspitzt: was haben der Niedriglohnsektor, die Selbstgerechtigkeit gegen Langzeitarbeitslose und das gute Gewissen der Besserverdienenden gemeinsam? Ohne asketischen Protestantismus gäbe es das nicht!
MMarheinecke - Sonntag, 18. Juli 2010