Dienstag, 9. September 2008

"Dinge, die's wert sind".

Angeregt durch kluge Gedanken von ryuuyu Best things aren't free und distelfliege Best things aren't free 2.

Ich bin zwar nicht von wirklich bitterer Armut betroffen, aber wie es sich anfühlt, von ALG II zu leben, kenne ich aus eigener Erfahrung. Es ist kein gutes Gefühl. Im Moment entspricht mein Einkommen in etwa meinen tatsächlichen Lebenshaltungskosten, aber mir ging es finanziell auch schon dreckiger.

Anlass war die an sich ganz nette Aktion "Best Things are Free" - an und pfirsich nicht schlecht, gäbe es da nicht ab und an dieses Hohelied auf Bescheidenheit, mal zwischen den Zeilen, mal ziemlich direkt angesprochen.

Bescheidenheit ist gut - solange sie freiwillig ist. In den allermeisten Fällen ist sie aber nicht freiwillig. Ich könnte in meiner Situation noch sagen: "Och, ich bin mit dem, was ich habe, zufrieden". Aber ich war schon in Situationen, in denen das eine Lüge gewesen wäre.

"Best Things are Free" kann, wie Distel richtig meint, eine Möglichkeit sein, trotz Armut stolz durchs Leben gehen zu können - unter der Voraussetzung allerdings, dass es für die wirklich existenziellen Dinge reicht - worunter ich, ungleich bestimmten im
Elfenbeinturm sitzenden Betriebswirten, mehr verstehe, als sich gemäß WHO-Mindeststandard ernähren zu können. Denn der Stolz, die Würde, die wird armen Menschen geradezu systematisch abgesprochen. (Mir fehlt jetzt der Nerv, mich mit dem Menschenbild hinter den Hartz-Reformen auseinanderzusetzen - oder gar dem Menschenbild der Bild.)
Freiheit, Würde, Respekt - dass sind Dinge, die man sich offensichtlich buchstäblich verdienen muss - es sei denn, man hat gut geerbt - ich verweise da gern auf die Diskussion zu einem kleinen Beitrag bei shifting reality Eigentum und Freiheit.

Ja, und dann gibt es da noch das, was Ferdinand Lassalle vor gut 150 Jahren mal die "Verdammte Bedürfnislosigkeit des Deutschen Arbeiters" genannt hat: eine kleine Wohnung, abends Bier und Wurst auf dem Tisch, schon ist der deutsche Arbeiter zufrieden und muckt nicht auf. Diese Mentalität gibt es heute noch, und sie wird von offizieller Seite noch gefördert.
"Bedürfnislosigkeit" meint in diesem Zusammenhang weniger das Bedürfnis nach materiellen Gütern, nach Konsum - auch wenn Lassalle die lange Zeit geübte "Lohnzurückhaltung" sicher als "verdammte Bedürfnislosigkeit" getadelt hätte - sondern vor allem immaterielle Bedürfnisse wie: kulturelles Leben - Anerkennung - Freiheit - Würde.
Die zwar oft - nicht immer - nicht mit Geld befriedigt werden können - aber durchaus nicht "for free", kostenlos, zu haben sind.

Also - 10 Dinge, die ich mir leiste, obwohl ich mit den Preis dafür eigentlich nicht leisten kann:

1. Ich führe ein Webblog. Und zwar eines, dass sich nicht auf Katzenbilder und Kochrezepte beschränkt. Trotz der Gefahr, wegen irgend einer Kleinigkeit abgemahnt oder der (schon mal eingetretenen!) Gefahr, wegen übler Nachrede angezeigt zu werden.
2. Ich halte in der Öffentlichkeit und auch im Internet nicht mit meinen Ansichten über Religion, Sexualität, Politik zurück und thematisiere sogar persönliche Schwächen - wenn man bestimmten "Beratern" glaubt, vergrault man mit "so was" potenzielle Arbeitgeber. ("Haben Sie erst mal eine Festeinstellung, dürfen Sie ruhig zur Religion bloggen.")
3. Ich nehme, um Freunde zu treffen, auch Reisen in Kauf, die ich durchaus finanziell spüre.
4. Manchmal machen ich auch nur Kurzreisen einfach so, damit mir die Decke nicht auf den Kopf fällt - ein Katastrophe für die gewissenhafte Haushaltsplanung.
5. Überhaupt ist Spontanität etwas, was man sich bei "engen Buget" nicht leisten kann. Mal einfach so das tolle Buch kaufen, oder die Schuhe, die einem gefallen oder mal eben ins Kino oder Essen gehen - das ist nicht drin, weder mit ALG II noch als Geringverdiener. Ich mache es manchmal trotzdem.
6. Ich erfahre beinahe ständig, dass ständige Wachsamkeit der Preis der Freiheit ist - in Politik und Wirtschaft (siehe die Ecke oben rechts) wie auch im Alltag. Vor allem die Wachsamkeit gegenüber den Wächtern.
7. "Schlendern ist Luxus". Ein Luxus, der gelegentlich mit einem freundlichen "Was stehn Se hier rum?" oder "Ham Se nix Besseres zu tun?" quittiert wird. Aber ich bin nicht bereit, so zu tun, als wäre ich gehetzt, wenn ich tatsächlich mal viel Zeit habe.
8. Die eigene, schöne Wohnung. Sie ist nicht sonderlich teuer, aber was hat es mich Nerven gekostet, sie zu behalten, als es mir mal finanziell richtig dreckig ging, und zwar unverschuldet!
9. Allgemein: Es kostet Nerven, Energie, Phantasie, und man braucht echte Freunde, um sich anders zu verhalten, als es "von einem erwartet" wird. Individualität ist nicht gratis, Nonkonformismus hat seinen Preis.
10. Teuer erkaufte Lebenserfahrungen, die ich trotzdem nicht missen möchte.

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