Samstag, 29. Dezember 2007

Die "alten Germanen" hatten keine Religion

Angeregt durch die Bertelsmann-"Studie" zur Religiösität: "Religiöse Atheisten" - oder Umfrageergebnisse nach Maß stieß ich wieder einmal auf die grundsätzliche Fragen, was eigentlich ist . Konkret: Ist Ásatrú, bzw. "nordisch-germanisches Neuheidentum" - also die "spirituelle Richtung", der ich (unter Anderem!) angehöre, eine Religion? Was automatisch die Frage nach sich zieht, ob die "alten Germanen" eine Religion hatten?

Ich neige zu der (vielleicht überraschenden) Antwort: Die "alten Germanen" hatten keine Religion. Die "alten Griechen", "alten Römer", "alten Ägypter" und andere vor-christliche Polytheisten übrigens auch nicht.

Dazu muss man zunächst wissen, was "Religion" überhaupt bedeutet.
Im Sinne der Umfrage der Bertelsmann-Stiftung wäre auch einer von Armins Cheruskern, dem man den Fragebogen (in entsprechender Übersetzung) vorgelegt hätte, "religiös" gewesen. Genau so wie die meisten Römer, die sich, mit der lateinischen Fassung konfrontiert, wohl als "hochreligiös" erwiesen hätten. Aber das liegt daran, dass der Fragebogen so konzipiert ist, dass er einerseits nicht zwischen "Religiösität" und "Spiritualität" (zwei durchaus verschiedene Dinge) unterscheidet, andererseits auch das Einhalten alltäglicher religiöser Bräuche, unabhängig von der Motivation der Befragten, als Zeichen von "Religiosität" sieht. Ein Atheist, der seiner Familie zuliebe Weihnachten in die Kirche geht, zeigt also laut Fragebogen "religiöses Verhalten". Auch Meditation wird als religiöses Verhalten, ähnlich dem Gebet, gesehen. Aber - auch Atheisten meditieren, denn Meditation kann als reine Entspannungsübung praktiziert werden.
Schon der Wikipedia-Artikel Religion und mehr noch Religionsdefinition verrät, wie naiv (und "christozentrisch") der Ansatz der Bertelsmann-Stiftung ist.

Interessant ist, dass die heidnischen Römer das, was wir heute üblicherweise die "altrömische Religion" nennen, nicht mit dem Wort religio bezeichneten. Nach Cicero (De Natura Deorum 2, 72; 1. Jh. v. u. Z.) geht religio zurück auf relegere, was wörtlich "wieder auflesen, wieder aufsammeln, wieder aufwickeln", im übertragenen Sinn "bedenken, Acht geben" bedeutet. Der Bezug zu religio in der späteren Bedeutung von "Frömmigkeit" oder "Gottesfurcht" entstand dadurch, dass Cicero dabei an den Tempelkult dachte, den es sorgsam zu beachten galt. Aber vor allem bedeutete religio für ihn und seine Zeitgenossen "Rücksicht", "Bedenken", "Skrupel", "Pflicht", "Gewissenhaftigkeit". Ein gewissenhafter Mensch war im altrömischen Sinne "religiös", auch wenn er vielleicht nie im Leben einen Tempel aufsuchte.

Erst der im 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung lebende christliche Apologet Lactantius führte das Wort religio zurück auf religare: "an-, zurückbinden". Damit bereitete er der noch heute üblichen Bedeutungen von "Religion" im Sinne von "Rückbindung" des Gläubigen an einen universellen göttlichen Ursprung oder an sonstige Auffassungen von Transzendenz den Weg.

Eine interessanten Ansatz vertritt Peter Möller in seinem Aufsatz: Religion und Philosophie.
Nach der Einschätzung Möllers hat Religion sechs analytisch trennbare Aspekte:
  1. Dogmatismus: Über das empirisch und rational Erkennbare hinaus werden bestimmte Glaubenssätze aufgestellt, von deren Richtigkeit ohne jeden Zweifel ausgegangen wird.
  2. Unkompliziertheit: In der Regel handelt es sich dabei um eine sehr einfache, dem Auffassungsvermögen der großen Mehrheit der Bevölkerung angepaßte, mythenhafte, märchenhafte Seinsdeutung und Voraussagen, was mit dem Menschen bzw. seiner Seele in Zukunft passieren wird.
  3. Trostpflasterfunktion: Mit dem Glauben an eine jenseitige Vergeltung, ewiges Leben, Wiedergeburt etc. tröstet die Religion viele Menschen über die z. T. gewaltigen Lebensprobleme hinweg.
  4. Ethik: Verbunden mit den religiösen Glaubenssätzen sind Angaben darüber, was gut und böse ist und damit verbunden die Aufforderung zu einem bestimmten Verhalten.
  5. Kulthandlungen: Verbunden mit diesen Glaubenssätzen werden bestimmte Kulthandlungen durchgeführt, wie zum Beispiel Gottesdienste, Gebete, Rituale etc.
  6. Kirche: In der Regel gibt es eine Organisation, in der die Gläubigen zusammengefaßt sind, und die über die Reinhaltung der Lehre und über die Kulthandlungen wacht.
Gemäß Möller - und da schließe ich mich seiner Auffassung an - machen nur diese sechs Punkte zusammen Religion aus. Würde man z. B. bereits das Aufstellen nicht nachprüfbarer Glaubenssätze Religion nennen, wäre auch ein politischer Fanatiker religiös und eigentlich schon jeder etwas beschränkte, sture Mensch. Dann verlöre der Begriff Religion seinen Erklärungswert.

Zieht man die historischen Quellen und die archäologischen Befunde über die "germanische Kultur" vor der Christianisierung zusammen (was nebenbei gesagt eine gewagte Verallgemeinerung ist), dann wird klar, dass es so etwas wie eine "heidnisch germanische Kirche" nicht gab und ein Priesterwesen im römischen Sinne nicht nachweisbar ist, gar nicht zu reden von einem Klerus im Sinne der monotheistischen Großreligionen. Ebenfalls sicher sein kann man in Fragen des Dogmatismus: die Mythologie geht zwar über das empirisch und rational Erkennbare hinaus, stellt aber keine Glaubenssätze auf, es können verschiedene, sich inhaltlich widersprechende Mythen nebeneinander stehen. (Das war übrigens auch bei den Römern, Griechen, Ägyptern, Kelten usw. so.)
Nicht ganz so einfach ist die Entscheidung hinsichtlich der "Unkompliziertheit": zwar herrschte eine mythenhafte, "märchenhafte" (viele Märchen sind "gesunkene Mythen") Seinsdeutung vor, es gab auch Voraussagen, was mit dem Menschen bzw. seiner Seele in Zukunft passieren wird. Andererseits sind heidnische Weltdeutungen in der Regel eher kompliziert - es ist nicht zuletzt die relative Einfachheit des monotheistischen Christentums, die die Missionierung erleichterte und erleichtert. Hinsichtlich der Unkompliziertheit ist übrigens der Islam dem Christentum mit seinem schwer verständlichen Trinitäts-Konstrukt klar überlegen. So, wie die christliche Dogmatik, jedenfalls für den Normalgläubigen, unkomplizierter ist als die ausgeklügelte und hochabstrakte jüdischen Gesetzesgelehrsamkeit. Wäre ich PR-Fachmann, ich sähe im Islam die Religion mit dem "größten Verbreitungspotenzial". Vielleicht ist es dem Einfluss der PR-Fachleute auf die Politik zu verdanken, dass so viele "westliche" Politiker so viel Angst vor einem "übermächtig werdenden" Islam haben ...
Die "Trostpflasterfunktion" ist im germanischen Heidentum, nach allem, was wir wissen, eher schwach ausgeprägt. "Jenseitige Vergeltung", etwa in dem Sinne, dass "böse Menschen" in die Hölle kämen und ein rechtschaffender und frommer Armer ins Paradies, gibt es noch nicht einmal in den schon vom christlichen Denken beeinflussten Eddas. (In denen allerdings schon von einer "Strafbehandlung" für Meineidige die Rede ist.) Und auch Walhall ist kein "Paradies für gefallene Krieger", wie es oft heißt, sondern ein jenseitiges Trainingslager für Ragnarök. Allerdings mit zugegeben guter Verpflegung und einigem Komfort. Wobei Odin nur die zweite Wahl unter den toten Kriegern hat, die erste Wahl hat Freyja, die "Besten" kommen also nicht nach Walhall, sondern nach Folkwang. Übrigens deutet vieles darauf hin, dass sich die Vorstellung von Walhall erst nach der Völkerwanderung ausgebildet hat und auf den "Adel" und seine Krieger-Gefolgschaften beschränkt war.
Eine ethische Funktion hat die "alte Sitte" schon gehabt, wobei sich "weltliche" und "göttliche" Gesetze und Gebote nicht voneinander trennen lassen. Die klare, dualistische Unterscheidung zwischen "gut" und "böse" fehlt. Kein Zweifel kann daran bestehen, dass es Kulthandlungen, Rituale usw. gab.

Also treffen zwei der sechs möllerschen Kriterien auf das "germanische Heidentum" überhaupt nicht zu, drei weitere allenfalls teilweise, nur einer, das Ausüben von Kulthandlungen, voll und ganz. So gesehen wäre das germanischen Heidentum keine Religion. Aber auch nichts völlig Anderes.

Eine andere Religionsdefinition geht auf Clifford Geertz zurück. Religion ist, folgt man Geertz, ein Symbolsystem, dessen Ziel es ist, starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen im Menschen zu erzeugen, indem Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert werden, die mit einer solchen Aura von Faktizität ("Tatsächlichkeit") umgeben werden, dass die Stimmungen und Motivationen vollkommen der Realität zu entsprechen scheinen. Ein Vorteil von Geertz Ansatz ist, dass er auch "Politreligionen" und ähnliche zur universellen metaphysischen Glaubenssystemen geronnene Ideologien abgedeckt. Das Entscheidende ist, dass Religion beim Gläubigen den Anschein erweckt, die einzige und universelle Wahrheit zu sein.
Es lässt sich, etwas vergröbert, sagen, dass in der der Religion an etwas geglaubt wird, und zwar dergestalt, dass sich "Glauben" und "Zweifel" aneinander ausschließen. Ein Zweifel an den Aussagen der Religion - zum Beispiel an einem heiligen Buch, an der Offenbarung eines Propheten, den Worten eines charismatischen Führers - wird nicht geduldet.
Das trifft auf Heiden - offensichtlich - nicht zu: keine heiligen Bücher, keine göttlichen Offenbarungen, die nur auserwählten Propheten (und sonst niemandem) zuteil werden, keine "unfehlbaren" Religionsführer.

An dieser Stelle ließe sich einwenden, dass es zumindest im griechischen Heidentum den Vorwurf der Asebie, der "Gottlosigkeit", gab. Allerdings hatte dieser Vorwurf, wie man an den Asebie-Prozessen z. B. gegen Sokrates oder Protagoras erkennt, einen politisch-gesellschaftlichen Konnex. Die "Götter Athens" zu leugnen war gleichbedeutend mit einem Verstoß gegen den "Geist" der Polis (und umgekehrt). Die "Asebie" ist nicht mit der "Gotteslästerung" gleichzusetzen - Komödiendichter wie Aristophanes durften ausgesprochen deftig über die Götter spotten, ohne der Asebie verdächtig zu werden. Außerdem gibt es - außer einer Bemerkung über die Bestrafung "Gottloser" bei Tacitus - keine Hinweise, dass es bei den Germanen Vergleichbares gegeben hätte.

Wie dem auch sei: es gibt offensichtlich metaphysische Auffassungen, die zwar keine Religion im Sinne etwa des Christentums sind, aber ihnen in mancher Hinsicht ähneln.

Der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann prägte die Begriffe "primäre und sekundäre Religion", die hier vielleicht weiter helfen.

Primäre Religionen haben einen tribalen Charakter, es sind "Stammesreligionen". (Oder, wenn es wie in Rom oder lange vorher in Ägypten zur Herausbildung eines Staates gekommen ist, "Nationalreligionen" - "Nation" passt in diesem Zusammenhang zwar nicht ganz, aber "Staatsreligion" hat schon eine andere Bedeutung.)
Es gibt Stammesgötter und Stammeskulte. Gesellschaft und Religion lassen sich nicht trennen, beides ist "Sitte", die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Primäre Religionen sind eher Lebensstil als Glaubensüberzeugung. Sie bestimmt durch ihre Moral und Ethik das Leben der Gesellschaft. Die Riten dienen vornehmlich der Integration der Gesellschaft, dienen also dem Zusammenleben, allgemeiner gesagt, dem Leben, das sie stärken, fördern wollen. Einer primären Religion kann man sich nur anschließen, indem man durch Riten in den Stamm selbst aufgenommen wird, oder dass der Stamm mit einem anderen ein Bündnis eingeht, dass den religiösen Austausch einschließt. Dabei kommt es jedoch nicht zu einem wirklichen Religionswechsel, selbst bei einer politischen Unterwerfung nicht, sondern zu einer Religionsvermischung.
Auch wenn Missionierung unter primären Religionen nicht vorkommt, Religionskriege unter ihnen kaum möglich sind und "fremde Götter" genau wie "fremde Menschen" zuweilen in die Stammesgemeinschaft aufgenommen wurden bzw. - in staatlich organisierten Kulturen - das Bürgerrecht erhielten, weist Assmann sogar ausdrücklich das "alte Klischee vom 'toleranten Polytheismus" zurück. Polytheistische Religionen sind genau so tolerant (oder intolerant) wie die Gemeinwesen, in denen sie praktiziert werden. So fand die - ausgeprägte und zurecht gelobte- religiöse Toleranz der Römer ihre Grenzen in der "Staatsraison": Cäsar duldete zwar die keltische "Religion" (genauer gesagt, war sie ihm gleichgültig), ließ aber die Druiden, die wesentlichen "Traditionsträger" dieser Primärreligion, brutal verfolgen - weil er in diesem "Geheimbund" eine politische Gefahr sah. Eine andere Grenze der Toleranz war, dass römischen Bürger an der Staats- und Kaiserverehrung teilnehmen mussten - wenigsten in der Form eines pro-forma Opfer für das Heil des Kaisers. Die frühen Christen verweigerten dieses Opfer, weil das die Anerkennung eines anderen Gottes neben dem Gott der Bibel bedeutet hätte. Aus römischer Sicht war das Verrat am Heil der "Staatsgemeinschaft" und folglich ein Akt der politischen Rebellion.

Für die germanische Welt zeichnet der Bochumer Religionswissenschaftler Hans-Peter Hasenfratz in dieser Beziehung ein düsteres Bild: "Alles, was außerhalb des Sippenfriedens steht, ist Feind, dazu gehört der 'Unfreie', der von seinem Herrn bußlos erschlagen werden kann." Hasenfratz schöpft diese Feststellung aus den selben Quellen, die auch "völkische" Germanenfanatiker in ihrer xenophoben (fremdenfeindlichen, wörtlich "gastängstlichen") Weltanschauung bestärken - allerdings mit umgekehrter moralischen Bewertung. Folglich könnte es auch mit der "religiösen Toleranz" der Germanen nicht weit her gewesen sein. Allerdings stammen diese Quellen entweder aus der Völkerwanderungszeit - einem jahrhundertenlangen permanenten Kriegszustand - wobei sich gerade während der Völkerwanderung auch Beispiele genau des gegenteiligen Verhaltens, der bereitwilligen Aufnahme Fremder und fremder Sitten in der Stamm, finden lassen. Die späteren Quellen stammen von christlichen Missionaren, die verständlicherweise das Heidentum in einem düsteren Licht sahen, oder aus hochmittelalterlichen Quellen, die über die "alte Zeit des Heidentums" rückblickend berichteten - wobei selbst wohlwollende Chronisten Sitten ihrer Zeit auf die "Ahnen" zurückprojektierten.
Alles in allem: Kein heidnischer Germane wurde dadurch automatisch tolerant, dass er Polytheist war. Ebensowenig wurde er dadurch automatisch intolerant, weil er einer Stammesreligion anhing.

Assmann benutzt den Begriff "Sekundärreligion" - der Religion im Sinne der oben genannten Religionsdefinitionen - anstelle älterer, unscharfer Begriffe wie "Offenbarungsreligionen", "Buchreligionen", "Hochreligionen", "Universalreligionen" oder "monotheistischer Religionen". Wobei alle diese Merkmale - es gibt eine (exklusive) Offenbarung, eine heilige Schrift, die religiöse Sphäre ist gegenüber der weltlichen abgetrennt und ihr in ethischen und moralischen Fragen übergeordnet, die religiöse Offenbarung gilt für die ganze Welt und nicht nur für ein einzelnes Volk oder eine einzelne Region, es gibt nur einen Gott - mehr oder weniger charakteristisch für Sekundärreligionen sind. Sekundärreligionen entstanden, laut Assmann, aus einer Rebellion gegen eine bestehende Primärreligion - er geht vom Beispiel der Ein-Gott-Religion des Pharaos Echnaton aus, der gegen die mit dem Staatswesen verschmolzenen polytheistische Religion bzw. die Machtfülle deren Priester, die seine Macht beschränkte, rebellierte.
"Sekundäre Religionen, Religionen im "eigentlichen Sinne" sind ursprünglich "Widerstandsbewegungen". Die Ausdifferenzierung des (im eigentlichen Sinne) Religiösen gegenüber dem Politischen und dem Moralischen ist überall aus politischen und sozialen Konflikten hervorgegangen.
Einen entscheidende Unterschied zur Primärreligion beschrieb Assmann so: "Die sekundäre Religion ist in einem ganz neuen und emphatischen Sinne Religion und vor allem: die Sekundärreligion ist 'Herzenssache'." Sie steht für sich, und der Einzelne steht vor Gott.
"Sekundäre Religionen" gehen vielleicht nicht immer auf Rebellen, aber wohl auf Reformer, Charismatiker, Propheten oder ganz neutral Stifter zurück. Während die primäre Religion zwar religiöse Spezialisten kennt (Priester, oft ist das Sippenoberhaupt "Priester", Wahrsager, Heiler u.a.) ist sie dennoch vor allem eine kollektive Angelegenheit.
Die sekundären Religionen sind dagegen in hohem Maße eine Angelegenheit des Einzelnen. Die neue Glaubenswahrheit, die hier verkündigt wird, gilt allen Menschen, nicht nur dem eigenen Volk und Stamm. Während für die primäre Religion die Immanenz im Vordergrund steht, so ist die sekundäre Religion auf Transzendenz gerichtet.
Im Monotheismus tritt der Gedanke der "Gerechtigkeit" in den Vordergrund, hat doch keine "heidnische" Religion jemals Recht und Ethos zu ihrer Hauptsache gemacht. Heidnische Rechtsvorstellungen, einschließlich des altrömischen Rechts, sind eher auf den Interessenausgleich als auf die Durchsetzung abstrakter Rechtsgüter gerichtet. Recht und Ethos liefern nur die "Rahmenbedingungen". Ein "Verbrechen ohne Opfer" oder wenigstens ohne potenzielle Opfer wäre für einen alten Römer, einen alten Griechen, einen alten Germanen ein unsinniger Rechtsbegriff gewesen. Wo kein Geschädigter, da kein Kläger und "Wo kein Kläger, da kein Richter", wie es noch im mittelalterlichen "Sachsenspiegel" stand. Man kann in der Idee einer universellen und bedingungslosen Gerechtigkeit einen Fortschritt sehen.
Für Assmann stellt sich der Monotheismus als vergeistigt und ethisiert dar. In der Regel verstehe sich der Monotheismus von einer Offenbarung her und erfordere zivilisatorisch das Buch, beruhe somit auf "Gedächtniskultur" - in schriftlosen Kulturen kann sich keine Sekundärreligion etablieren. Während die primären Religionen meistens eine tiefe Differenz zwischen dem eigenen Volk und den anderen Völkern machen, setzen universaler Glaubensüberzeugungen voraus, dass alle Menschen auf irgendeine Weise gleich und dazu berufen sind, sich der neuen Glaubenswahrheit anzuschließen. In gleicher Weise ist dem Monotheismus der Gedanke inhärent, seine Glaubensvorstellung habe universelle Gültigkeit: Gibt es nur einen Gott, dann kann der Bereich seiner Wirksamkeit nicht auf eine einzige Region und ein Volk beschränkt sein, sondern in der ganzen Welt, die seine Schöpfung ist, muss sein Name bekannt sein, muss seine Herrschaft religiös anerkannt und gepriesen werden.

Das ist der Grund, weshalb die Entwicklung eines absoluten Wahrheitsbegriffes in den Sekundärreligionen (Assmann nennt sie "Die Mosaische Unterscheidung"), langfristig das pluralistische Nebeneinander des antiken Pantheons unmöglich machte und so tief in das kulturelle Gedächtnis des modernen Menschen eingegangen ist.
Für den Monotheismus ist ein hoher Preis zu zahlen, der unter Anderem in intensiven religiösen, kulturellen und politischen Auseinandersetzungen besteht.

Daraus wird klar, dass sich jede Form des Neuheidentums grundsätzlich von der "Primärreligion" der Zeit vor der Christianisierung unterscheiden muss. Im gar nicht so seltenen Fall entsteht eine Art "nichtchristlicher Kirche" inklusive Klerus, Schriftgläubigkeit und absoluten Wahrheitsanspruch. Im ungünstigsten Fall kommt noch der der primären Stammesreligion abgekuckte Glaube an "Nationalgötter" und eine "Nationalreligion" hinzu - "Ásatrú" nach dieser Lesart wäre nur etwas für Menschen "germanischen oder stammverwandten Blutes". Überschneidungen mit rechtextremer Ideologie sind unzufällig.

Im günstigsten Fall ist Neuheidentum der Versuch, Nachteile der Sekundärreligionen, der Religionen im eigentlichen Sinne, zu vermeiden, die Vorteile, die eine "Primärreligion" dem Einzelnen und der sie tragenden Gemeinschaft bietet, zu nutzen, sich viele Dinge, die in primärreligiösen Stammesgesellschaften anders als im "christlichen Abendland" üblich geregelt werden, anzusehen und von ihnen lernen. Und zwar ohne dabei Errungenschaften der Moderne wie die universellen Menschenrechte oder die Vorstellung der Gleichheit aller Menschen über Bord zu geben. Das ist möglich, weil diese Errungenschaften, anders, als es die selbsternannten "Verteidiger des christlichen Abendlandes" meinen, eben nicht aus dem Christentum hervorgingen, sondern teilweise außerhalb von ihm, teilweise, wie die "Aufklärung", sogar gegen es entwickelt worden.

Was auch deutlich wurde: modernes Heidentum ist mitnichten in erster Linie oder überhaupt "Glauben an die alten Götter". Wie in den alten "Stammesreligionen" lassen sich "Alltagsethik" und "religiöse Ethik" nicht trennen: beides ist "Sitte". Und, wie ich vor kurzem auf der Julfeier der Nornirs Ætt feststellen konnte, wird diese alt-neue Sitte (Siðr) tatsächlich von Generation zu Generation weitergegeben. (Nicht in Form einer "religiösen Erziehung" oder gar einer Missionierung, sondern durch freiwillig Übernahme "der Jungen" von "den Alten".)

Um auf die Eingangsfestellung zurückzukommen: sowohl die alte "Primärreligion" wie das aufgeklärte Neuheidentum haben wenig mit Religion im eigentlichen Sinne, also Sekundärreligion im Sinne Assmanns, gemein. So wenig, dass es sich strenggenommen verbietet, von einer heidnischen Religion zu sprechen.

Der Grund dafür, dass heute üblicherweise von "heidnischen" oder "polytheistischen" Religionen die Rede ist, liegt daran, dass nicht nur bei der Bertelsmann-Stiftung, sondern sogar innerhalb der Kirchen ein Religionsbegriff üblich wurde, in dem sich sogar philosophische Systeme wie der klassische Buddhismus - der keine Aussagen über einen Schöpfergott oder über die Existenz oder Nichtexistenz von Göttern macht - einbeziehen lassen. Unter einer so schwammigen Definition wie "System von letztinstanzlichen Verbindlichkeiten" lässt sich nahezu jede Metaphysik zur "Religion" umdeuten. Oder anders gesagt: abgesehen von "Klotzmaterialisten" wären alle Menschen "irgendwie religiös" - und folgt man einigen christlichen Apologeten, glauben schließlich fast alle Menschen "irgendwo" an Gott (womit implizit der Christengott gemeint ist). Dass z. B. viele Juden, Moslems, von Buddhisten und Heiden gar nicht zu reden, auf solche Umarmungsversuche, die man auch als Vereinahmungsversuche sehen kann, nicht eben freundlich reagieren, dürfte allenfalls besagte Apologeten verwundern.

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