Donnerstag, 19. April 2007

Neidinge - was ein altgermanischer Begriff mit dem Überwachungsstaat zu tun hat

Wenn ich mir die Argumentation diverser Innenminister und der ihnen zuarbeitenden / sie beeinflussenden Sicherheitsexperten ansehe, und Artikel zu einschlägigen Themen in der Presse nachlese, dann stelle ich fest, dass es für viele politische Entscheider zwei Kategorien der Kriminalität gibt: "normale" Kriminalität und "Sonderverbrechen". Für "Sonderverbrecher" gelten "normale" Bürgerrechte nicht - Innenminister Schäuble stellt sogar die Unschuldsvermutung zur Disposition.
Interessanterweise kommen diese politischen Entscheider damit bei großen Teilen der Bevölkerung durch. Warum?

Die "Sonderverbrechen", die Einschnitte in Bürgerrechte nach sich ziehen, sind derzeit in Deutschland (in abnehmender Reihenfolge der "Schrecklichkeit") Terrorismus, Sexualdelikte gegen Kinder, mit einigem Abstatand organisierte Kriminalität und - mit deutlichem Abstand und längst nicht bei allen politischen Entscheidern - rechtsextreme Straftaten. Dass es sich um besonders verabscheuenswürdige Delikte handelt, die energisch bekämpft werden müssen, bestreite ich nicht. Dass für die Bekämpfung dieser Delikte Bürgerrechte eingeschränkt werden müssen, bestreite ich hingegen sehr.

Was unterscheidet einen Terroristen von einem "normalen" Mörder, oder einen "Kinderschänder" von einem "normalen" Sexualstraftäter und einen Sexualstraftäter von, sagen wir mal, einem Dieb?

Ich beschäftige mich intensiv mit der Gesellschaft der vorchristlichen Germanen. Dabei stieß ich auf den Begriff "Neiding".

Der Neiding (althochdeutsch nidding, altnordisch níðing) war bei den
Germanen ein besonders boshafter Mensch, der sich durch seinen nid(d) (anord. níð) außerhalb der menschlichen Gesellschaft stellte. "Neid" leitet sich von "nid" ab, allerdings mit stark abgeschwächter Bedeutung - nid bedeutet außer (verzehrendem) Neid soviel wie Bosheit, Arglist, Heimtücke. Eine "Neidingstat" führte zur Verbannung aus der menschlichen Gesellschaft, ein Neidung wird für friedlos erklärt (angelsächsisch ûtlah [engl. outlaw], mittelniederdeutsch uutlagh, nordisch utlagr). Friedlosigkeit bedeutet die Feindschaft allen Volkes. Niemand darf ihn unterstützen, beherbergen und nähren. Er ist vogelfrei und muß im Walde Schutz, gleich dem Wolfe und wird deshalb auch "varc", "vearg", "varg" genannt. Der Friedlose gilt als für das Recht tot, seine Frau (oder ihr Mann) rechtlich als verwitwet und seine Kinder als Waisen, sein Hab und Gut wird entweder durch die Sippe eingezogen oder wird zerstört.

Auf die mythologischen Bedeutungen von Neiding, z. B. der damit verbundenen Bessesenheits- und Werwolfvorstellunge gehe ich hier nicht ein; dass führt zu weit. Wichtiger ist, dass die Art eines Verbrechens und die Art und Weise der Ausführung darüber entscheid, ob jemand ein "Normalstraftäter" oder ein Neiding war.

Ein Beispiel: tötete jemand einen Menschen absichtlich, dann war das nicht in jedem Fall "Mord": außer, wie heute noch, bei Tötung im Affekt (Totschlag) und in Selbstverteidigung galten Tötungen aus Rache, im Duell oder nach massiver Provokation nicht als "Mord". Mord wird heimlich, unter Ausschluss des Volkes bzw. der Sippe, und vorsätzlich, planvoll, verübt. "Einfacher" Mord, etwa mit einer Stichwaffe auf offener Straße, ist keine "Neidingstat", Giftmord oder Ermordung eines Hilfslosen dagegen ist eine - "Arglist".

Auch die Anwendung von Schadenzauber galt als Neidingstat, was z. B. auch in den frühneuzeitlichen Hexereivorstellungen in abgewandelter Form weiterlebte. (Es gibt nach germanischen Vorstellung zwei Arten der Zauberei oder Magie, Seidr [Seiðr] und
Galdr - Seidr wird meist in der Abgeschiedenheit ausgeübt, weshalb ein Seidrtreibender leicht des Schadenzaubers bzw. des Nid verdächtig werden konnte. Tatsächlich waren im Hochmittelalter Seidr und Schadenzauber nahezu gleichbedeutend.)

Es wäre ein kühne (und wahrscheinlich unzutreffende) Annahme, dass die germanische Neiding-Vorstellung einen direkten Einfluß auf die heutige deutsche Mentalität hätten.
Aber die Vorstellung, dass bestimmte Verbrechen Menschen zu Un-Menschen, zu Vargen, machen, scheint in der Öffentlichkeit weit verbreitet zu sein.

Für eine Stammesgesellschaft, in der praktisch jeder jeden kannte und jeder auf jeden angewiesen war, war der Neiding und seine Friedlosigkeit noch eine praktikable "Rechtskonstruktion" des Volksrechtes. Schon in der mittelalterlichen Feudalgesellschaft war das nicht mehr der Fall: wer "Neiding" war, bestimmten in solchen Gesellschaften die Autoritäten - auch "unsoldatisches" Verhalten, zunehmend auch "unmännliche" Verhaltensweise, in christlichen Zeiten auch "sündiges" Verhalten - galten von nun an als "nid". Im Zuge der zunehmenden Obrigkeitsstaatsbildung Irgendwann waren dann "gesellschaftsfeindliche" und "staatfeindliche" Aktivitäten "Neidtaten". Wie schon erwähnt, spielten auch bei der Hexenverfolgung defomierte Neidings-Vorstellungen eine große Rolle. Und Schwule werden bis in die Gegenwart mit Vorurteilen konfrontiert, die durchaus dem alten Neiding-Begriff ähneln.

Weil die Idee, eine bestimmte Art "Superverbrechen" müsse einen Menschen "friedlos" machen, analog der Neidungs-Vorstellung in einer anonymen Massengesellschaft mit gut funktionieremden Desinformationsapparat nur Un-Heil anrichten kann, darf sie bei der Strafverfolgung keine, aber wirklich keine, Rolle spielen.
Es darf keine Abstriche von den Grundsätzen der Humanität, des Rechtsstaates, der rechtlichen Gleichheit aller Menschen, der grundsätzliche Gleichbehandlung aller Delikte, geben. Und erst recht keine Einschränkungen der Menschen- und Bürgerrechte - für niemanden!
Wir sind nun einmal keine Stammesgesellschaft mehr.

Auf spirituellem Gebiet und dem der persönliche Ehre sehe ich das allerdings anders. Da sehe ich Nazis schon mal als arge Varge und mache schon einen Unterschied zwischen einem "normalen" und einen "heimtückischen" Verbrechen. Aber das ist Sache der Moral - und Moral sollte nicht Gegenstand des Strafrechtes sein!

Du bist Deutschland, 2.0

Wir erinnern uns wohl alle (und wohl meistens ziemlich ungern) an die "Du bist Deutschland"-Kampagne. Die schlechte Nachricht: Es geht wieder los. Mit der im Herbst 2007 startenden Neuauflage der Kampagne “Du bist Deutschland” soll dem Vernehmen nach die inländische Kinder-Produktion angekurbelt werden.
Die Gute : Pantoffelpunk sind über dunkle Kanäle bereits drei Anzeigen für die Kampagne zugespielt worden: Du bist Deutschland reloaded, Du bist Deutschland - weitere Motive durchgesickert und Du bist Deutschland reloaded III - Es leckt weiter!

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