Cäsium-137, Jod-131, Strontium-90, Lüge-86 - Teil 4
Nach längerer Pause endlich der Abschluß dieser kleinen Serie.
Teil 1: Vor dem Unfall
Teil 2: Die sowjetische (Des-)Informationspolitik
Teil 3: Das deutsche Informationschaos
Teil 4: die Folgen
Angesichts der erheblichen Folgen der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl für die Bevölkerung der Ukraine und Weißrußlands nehmen sich die Folgen für Deutschland vergleichseweise geradezu unscheinbar aus. Die durchschnittliche zusätzliche Strahlenbelastung lag in Westdeutschland bei 0,55 Millisivert pro Jahr. In Süddeutschland war die Strahlenbelastung deutlich höher als im Norden, die Bodenkontamination betrug in Bayern zwischen 20.000 und 80.000 Bequerel pro Quadratmeter. Wenn solche Werte z. B. in einem radiologischen Labor auftreten, muß das Labor sofort geschlossen und dekontamiert werden. Allerdings läßt sich aus dieser Tatsache keine unmittelbare Gefahr ableiten, entscheidend ist die effektive Dosis, die der einzelne Mensch aufnimmt.
Die deutsche Strahlenschutzkommision errechnete für das am stärksten betroffene Voralpengebiet eine durchschnittliche zusätzliche effektive Dosis von 1,2 Millisivert für das erste Jahr nach dem Unfall - in den stark kontaminierten Gebieten der Ukraine lag sie bei 10,8 Millisivert pro Jahr. (Zum Vergleich: Die mittlere natürliche Strahlenexposition liegt in Deutschland bei 2,1 Millisivert pro Jahr, mit ortsabhängigen Werten von ca. 1 mSv bis ca. 6 mSv pro Jahr.) Wenn es tatsächlich "Tschernobyl-bedingte" zusätzliche Krebserkrankungen und Mißbildungen bei Neugeborenen gegenben haben sollte, dann gehen sie bei derart niedrigen Dosen völlig in der normalen statistische Schwankungsbreite unter. Prognosen, die von zusätzlichen 25000 Krebtoten pro Jahr ausgingen, erwiesen sich als völlig unseriös, selbst jene Greenpeace-Studie, die mit 7000 zusätzlichen Schildrüsenkrebserkrankungen auf dem Gebiet der damaligen Bundesrepublik innerhalb eines Zeitraums von 30 Jahre rechnete, ist aus heutige Sicht bereits widerlegt.
Die politischen Folgen der Unfalls waren schwerwiegender. Nach "Tschernobyl" wünschten sich 2/3 der westdeutschen Bürger einen sofortigen Atomausstieg. Im August 1986 beschloß die SPD auf ihrem Parteitag mit wenige Gegenstimmen der Ausstieg aus der Atomenergie innerhalb von 10 Jahren, selbst in in der CDU sprach man noch von einer "Übergangenergie". Dessen ungeachtet wollte die Bundesregierung unter Helmut Kohl (CDU) nichts an ihrer Energiepolitik ändern, das Restrisiko sei vertretbar. Forschungsminister Riesenhuber (CDU) nennt eine Summe von einer Billion DM, die der Ausstieg aus der Kernenergie kosten würde - eine weitgehend frei erfundene Horror-Summe. Die Proteste an den Bauzäunen des KKW Brokdorf und der Wiederaufarbeitsanlage Wackersdorf eskalieren - die "Antwort" war eine bis dahin unvorstellbare Brutalität der "Ordnungskräfte" gegen erkennbar gewaltlose Demonstranten und selbst gegen Passanten, die zufällig "im Wege" standen. Es herrschte um Pfingsten herum geradezu Bürgerkriegsstimmung, der "Atom-Staat" schien Realität geworden zu sein.
In diesem Klima gediehen im Nachhinein kaum noch verständliche Panikreaktionen.
Die aufwändige Entsorgung der "Strahlenmolke" war dabei nur die Spitze des Eisbergs - es hätte völlig ausgereicht, das mit Molkepulver so lange liegen zu lassen, bis die Strahlung so weit abgeklungen war, dass man sie z. B. einfach kompostieren könnte. Nach heutigen Geldwert kostete die Entsorgung insgesamt ca. 50 Mio. €. Zu den Panikreationen gehörte es auch, dass selbst eindeutige Scharlatanerie geglaubt wurde, wenn sie die herrschende Strahlenangst bestätigte - und seriösen, sogar ausgesprochen "atomkritischen" Wissenschaftler schlicht nicht geglaubt wurde, wenn ihre Aussagen auch nur in die Nähe des Verdachts gerieten, die Gefahr zu verharmlosen. Tatsächlich brach die Kommunikation zwischen Sachverständigen und Laien völlig zusammen, mit der Folge, dass im öffentlichen Diskurs die Laien eindeutig das Sagen hatten. Noch heute neigen viele Journalisten dazu, Nichtfachleute für grundsätzlich glaubwürdiger zu halten als Fachleute. "Tschernobyl" verstärke über die Monate der Panik hinaus das ohnehin in der 80er Jahren stark angewachsene Mißtrauen gegen die "etablierte" Wissenschaft. Allerdings führte das auch dazu, dass sich eine "alternative" wissenschaftliche Infrastruktur bildete, zu der z. B. das fachlich solide Öko-Institut gehört.
Der massive Ausbau der Kernenergie war nach 1986 nicht mehr politisch durchsetzbar, obwohl vier damals im Bau befindliche Kernkraftwerke noch ans Netz gingen. Der bereits fertiggestellte schnelle Brüter in Kalkar wurde nicht in Betrieb genommen, die WAA Wackersdorf niemals gebaut. Auf der anderen Seite verlor das Thema Atomenergie recht schnell an politischer Relevanz, obwohl nach wie vor eine Mehrheit den Atomausstieg befürwortete, hatte es wenig Auswirkungen auf das Wählerverhalten. Ich vermute, dass die völlig überhitzte "Atompanik" zur "Atomgleichgültigkeit" der 90er Jahre Einiges beitrug.
Teil 1: Vor dem Unfall
Teil 2: Die sowjetische (Des-)Informationspolitik
Teil 3: Das deutsche Informationschaos
Teil 4: die Folgen
Angesichts der erheblichen Folgen der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl für die Bevölkerung der Ukraine und Weißrußlands nehmen sich die Folgen für Deutschland vergleichseweise geradezu unscheinbar aus. Die durchschnittliche zusätzliche Strahlenbelastung lag in Westdeutschland bei 0,55 Millisivert pro Jahr. In Süddeutschland war die Strahlenbelastung deutlich höher als im Norden, die Bodenkontamination betrug in Bayern zwischen 20.000 und 80.000 Bequerel pro Quadratmeter. Wenn solche Werte z. B. in einem radiologischen Labor auftreten, muß das Labor sofort geschlossen und dekontamiert werden. Allerdings läßt sich aus dieser Tatsache keine unmittelbare Gefahr ableiten, entscheidend ist die effektive Dosis, die der einzelne Mensch aufnimmt.
Die deutsche Strahlenschutzkommision errechnete für das am stärksten betroffene Voralpengebiet eine durchschnittliche zusätzliche effektive Dosis von 1,2 Millisivert für das erste Jahr nach dem Unfall - in den stark kontaminierten Gebieten der Ukraine lag sie bei 10,8 Millisivert pro Jahr. (Zum Vergleich: Die mittlere natürliche Strahlenexposition liegt in Deutschland bei 2,1 Millisivert pro Jahr, mit ortsabhängigen Werten von ca. 1 mSv bis ca. 6 mSv pro Jahr.) Wenn es tatsächlich "Tschernobyl-bedingte" zusätzliche Krebserkrankungen und Mißbildungen bei Neugeborenen gegenben haben sollte, dann gehen sie bei derart niedrigen Dosen völlig in der normalen statistische Schwankungsbreite unter. Prognosen, die von zusätzlichen 25000 Krebtoten pro Jahr ausgingen, erwiesen sich als völlig unseriös, selbst jene Greenpeace-Studie, die mit 7000 zusätzlichen Schildrüsenkrebserkrankungen auf dem Gebiet der damaligen Bundesrepublik innerhalb eines Zeitraums von 30 Jahre rechnete, ist aus heutige Sicht bereits widerlegt.
Die politischen Folgen der Unfalls waren schwerwiegender. Nach "Tschernobyl" wünschten sich 2/3 der westdeutschen Bürger einen sofortigen Atomausstieg. Im August 1986 beschloß die SPD auf ihrem Parteitag mit wenige Gegenstimmen der Ausstieg aus der Atomenergie innerhalb von 10 Jahren, selbst in in der CDU sprach man noch von einer "Übergangenergie". Dessen ungeachtet wollte die Bundesregierung unter Helmut Kohl (CDU) nichts an ihrer Energiepolitik ändern, das Restrisiko sei vertretbar. Forschungsminister Riesenhuber (CDU) nennt eine Summe von einer Billion DM, die der Ausstieg aus der Kernenergie kosten würde - eine weitgehend frei erfundene Horror-Summe. Die Proteste an den Bauzäunen des KKW Brokdorf und der Wiederaufarbeitsanlage Wackersdorf eskalieren - die "Antwort" war eine bis dahin unvorstellbare Brutalität der "Ordnungskräfte" gegen erkennbar gewaltlose Demonstranten und selbst gegen Passanten, die zufällig "im Wege" standen. Es herrschte um Pfingsten herum geradezu Bürgerkriegsstimmung, der "Atom-Staat" schien Realität geworden zu sein.
In diesem Klima gediehen im Nachhinein kaum noch verständliche Panikreaktionen.
Die aufwändige Entsorgung der "Strahlenmolke" war dabei nur die Spitze des Eisbergs - es hätte völlig ausgereicht, das mit Molkepulver so lange liegen zu lassen, bis die Strahlung so weit abgeklungen war, dass man sie z. B. einfach kompostieren könnte. Nach heutigen Geldwert kostete die Entsorgung insgesamt ca. 50 Mio. €. Zu den Panikreationen gehörte es auch, dass selbst eindeutige Scharlatanerie geglaubt wurde, wenn sie die herrschende Strahlenangst bestätigte - und seriösen, sogar ausgesprochen "atomkritischen" Wissenschaftler schlicht nicht geglaubt wurde, wenn ihre Aussagen auch nur in die Nähe des Verdachts gerieten, die Gefahr zu verharmlosen. Tatsächlich brach die Kommunikation zwischen Sachverständigen und Laien völlig zusammen, mit der Folge, dass im öffentlichen Diskurs die Laien eindeutig das Sagen hatten. Noch heute neigen viele Journalisten dazu, Nichtfachleute für grundsätzlich glaubwürdiger zu halten als Fachleute. "Tschernobyl" verstärke über die Monate der Panik hinaus das ohnehin in der 80er Jahren stark angewachsene Mißtrauen gegen die "etablierte" Wissenschaft. Allerdings führte das auch dazu, dass sich eine "alternative" wissenschaftliche Infrastruktur bildete, zu der z. B. das fachlich solide Öko-Institut gehört.
Der massive Ausbau der Kernenergie war nach 1986 nicht mehr politisch durchsetzbar, obwohl vier damals im Bau befindliche Kernkraftwerke noch ans Netz gingen. Der bereits fertiggestellte schnelle Brüter in Kalkar wurde nicht in Betrieb genommen, die WAA Wackersdorf niemals gebaut. Auf der anderen Seite verlor das Thema Atomenergie recht schnell an politischer Relevanz, obwohl nach wie vor eine Mehrheit den Atomausstieg befürwortete, hatte es wenig Auswirkungen auf das Wählerverhalten. Ich vermute, dass die völlig überhitzte "Atompanik" zur "Atomgleichgültigkeit" der 90er Jahre Einiges beitrug.
MMarheinecke - Freitag, 23. Juni 2006