"Don't get lost in Hamburg-Ost"
Bei Heise-Telepolis fand ich einen Artikel, der meinen Blogbeitrag von gestern auf's Trefflichste ergänzt:
Gefährliche Stadtviertel
Neben der "virtuell angestiegenen Kriminalität" gibt es, angefacht durch die Diskussion um Paralelgesellschaften, Gewalt an Schulen und "no go areas", virtuelle Slums. Einige dieser Slums, die es nur in der Welt der Vorstellung gibt, befinden sich angeblich in Hamburg.
Die unüberbietbare Meisterleistung im Orten eines virtuellen Slums leistete sich erwartungsgemäß die Bild-"Zeitung" (Sitzt der Hauptredaktion: Hamburg). Sie ortete in Steinwerder einen Ort, in dem sich Ausländern verschiedener Nationalitäten (vor allem Türken und Araber) vom Rest der Bevölkerung abschotten und oft nach ihren eigenen Gesetzen leben. Das Dumme ist nur: Der Stadtteil besteht aus Hafen-, Industrie- und Gewerbeflächen. Wohngebiete gibt es hier nicht. BILDblog: In the Ghetto
Eine vergleichbare Fehlleistung schaffte Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, als er im Zusammenhang mit der Rütli-Schule und Neukölln auch namentlich Stadtteile in Hamburg als Slums bzw. verslumt erkennen wollte. Er bezeichnete Billbrock als einen solchen Slum - ein Industriegebiet ohne nennenswerte Wohnbevölkerung. Möglicherweise hatte er Billbrock mit Billstedt verwechselt, einen benachbarten Stadteil mit in der Tat überdurchschnittlichem Ausländeranteil. NDR: Hamburg-Billstedt wehrt sich gegen Schäuble-Äußerungen
Weder ist Billstedt als Ganzes ein Slum, noch gibt es - "Problemviertel" wie die Trabantenstadt Mümmelmannsberg hin, hohe Arbeitslosigkeit her - auch nur Ansätze einer Verslummung, wie ich aus eigener, beinahe täglicher Anschauung, weiß.
Was es allerdings gibt, dass sind Stadteile, die, wie Hamburg Erster Bürgermeister Ole von Beust gegenüber dem Obdachlosenmagazin "Hinz & Kunzt" zugab, "gekippt" sind. Die Bankrott-Erklärung. Stadtteile mit hoher Arbeitslosigkeit, leerstehenden Gebäuden, miesen Spielplätzen und verlotterten Grünanlagen. Nur: diese "Problemviertel" sind nicht zwangsläufig Gebiete hoher Kriminalität und fast nie "Ghettos", in denen sich eine "Parallelgeschellschaft" entwickelt hätte. Der typische "gekippte" Stadtteil ist eher "sozialer Totpunkt" als "sozialer Brennpunkt".
Vituelle Slums und "no-go-areas" finden sich nicht nur bei recherchefauler Boulevardjournalisten und vorurteilsbeladenen Politikern, sondern, wie eine im Telepolis-Artikel erwähnte Studie zur Videoüberwachung zeigt, auch in den Köpfen ganz normaler Bürger.
Das Hauptargument für Videoüberwachung ist das mutmaßlich beeinträchtigte "subjektive Sicherheitsgefühl" der Bürger sowie eine gewisse Anzahl von "Kriminalitätsbrennpunkten" in der Stadt. Dabei haben diese angeblich unsicheren Orte anscheinend gerade bei jenen Menschen einen besonders schlechten Ruf, die weder dort wohnen, noch sich dort zu irgendeinem Zeitpunkt aufhalten.
Aber auch auf der Karte der St. Georgianer gibt es "helle Flecken", Gebiete, in denen man sich "nur" "überwiegend sicher" fühlt.
Abgesehen vom übel beleumundeten Wilhelmsburg sind das die im Osten gelegenen Stadteile Billstedt, Billbrook (!) (anscheinend weiß man selbst in St. Georg nicht immer, dass da eigentlich niemand wohnt), Allermöhe (wohl wegen des Neubaugebietes Neu-Allermöhe, das eine schlechte Presse hat) und interessanterweise Lohbrügge, der Stadtteil, zu dem auch Boberg samt dem idyllischen "Dorf der Zukunft" gehört.
Ich kenne Lohbrügge recht gut, da ich hier schon seit Jahren wohne. Der Grund, weshalb Lohbrügge und der Bezirk Bergedorf, zu dem Lohbrügge gehört, "im Osten" (Hamburgs) einen schlechten Ruf genießt, hat übrigens Parallelen zur Diskussion um "national befreite Zonen" im "Osten" (Deutschlands): Lohbrügge gilt als Hochburg der Rechtsextremisten. In den 80er und 90er Jahren völlig zurecht, Lohbrügge war eine Hochburg der "Nazisklns", die DVU erziehlte (relativ) hohe Wählerzahlen. Bis sie 1993 dichtgemacht wurde, befand sich hier Zentrale der NL (Nationalen Liste). In Lohbrügge war es den Strategen um Christian Worch und Thomas "Steiner" Wulff - beide seit Jahrzehnten als Naziführer bekannt und mehrmalig vorbestraft - gelungen, 1996 den bis dahin größten Aufmarsch von Skins, Alt- und Neonazis zu organisieren.
Seitdem ist es, auch Aufgrund des Drucks der Öffentlichkeit, spricht genervter Bürger und der keineswegs kleinen linken und autonomen Szene, und wegen "interner Zerfallserscheinungen" der Neo-Nazi, ruhiger geworden. NPD, Reps und DVU spielen im Bezirk Bergedorf keine Rolle mehr. Ein 1999 geplanter Aufmarsch am "Heß-Wochenende" in Bergedorf / Lohbrügge wurde wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit verboten.
Wer Augen im Kopf hat, erkennt aber, dass es hier nach wie vor eine, wenn auch im wesendlichen "unauffällige", aktive rechtextreme Szene gibt. Flugblätter, Plakate, Aufkleber und gesprühte (meist ultra-platte) rechte Parolen zeigen, dass es in Hamburg-Ost nach wie vor mehr Rechtsextremisten gibt, als in andere Stadtteilen. Es leider immer noch immer wieder "Aktionen" gegen die "linken" Kulturzentren "Unser Haus / Cafe Flop" (in Bergedorf) und "Lola" (in Lohbrügge), darunter wiederholte Brandanschläge.
Es gibt auch nach wie vor Kneipen und Läden, die man tatsächlich als "no go area" für "femdländisch Aussehende" bezeichen könnte. (Ich nenne sIe lieber Kneipen und Läden, die man als "deutsch Aussehender" gefälligst boykottieren sollte.)
Dennoch ist Lohbrügge alles andere als eine "no go area". Es dürfte hier mehr Afrikaner geben als in halb Brandenburg, ohne dass es rasstische Zwischenfälle geben würde. Lohbrügge ist inzwischen sozusagen eine "virtuelle" Nazi-Hochburg.
Randbemerkung: "Don't get Lost in Hamburg Ost" ist ein Underground-Film, der Medien-Klischees über die Drogenszene und Rechtsextremisten mit den Mitteln des Horrorfilms satirisch durch den Kakao zieht und in Lohbrügge gedreht wurde.
Gefährliche Stadtviertel
Neben der "virtuell angestiegenen Kriminalität" gibt es, angefacht durch die Diskussion um Paralelgesellschaften, Gewalt an Schulen und "no go areas", virtuelle Slums. Einige dieser Slums, die es nur in der Welt der Vorstellung gibt, befinden sich angeblich in Hamburg.
Die unüberbietbare Meisterleistung im Orten eines virtuellen Slums leistete sich erwartungsgemäß die Bild-"Zeitung" (Sitzt der Hauptredaktion: Hamburg). Sie ortete in Steinwerder einen Ort, in dem sich Ausländern verschiedener Nationalitäten (vor allem Türken und Araber) vom Rest der Bevölkerung abschotten und oft nach ihren eigenen Gesetzen leben. Das Dumme ist nur: Der Stadtteil besteht aus Hafen-, Industrie- und Gewerbeflächen. Wohngebiete gibt es hier nicht. BILDblog: In the Ghetto
Eine vergleichbare Fehlleistung schaffte Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, als er im Zusammenhang mit der Rütli-Schule und Neukölln auch namentlich Stadtteile in Hamburg als Slums bzw. verslumt erkennen wollte. Er bezeichnete Billbrock als einen solchen Slum - ein Industriegebiet ohne nennenswerte Wohnbevölkerung. Möglicherweise hatte er Billbrock mit Billstedt verwechselt, einen benachbarten Stadteil mit in der Tat überdurchschnittlichem Ausländeranteil. NDR: Hamburg-Billstedt wehrt sich gegen Schäuble-Äußerungen
Weder ist Billstedt als Ganzes ein Slum, noch gibt es - "Problemviertel" wie die Trabantenstadt Mümmelmannsberg hin, hohe Arbeitslosigkeit her - auch nur Ansätze einer Verslummung, wie ich aus eigener, beinahe täglicher Anschauung, weiß.
Was es allerdings gibt, dass sind Stadteile, die, wie Hamburg Erster Bürgermeister Ole von Beust gegenüber dem Obdachlosenmagazin "Hinz & Kunzt" zugab, "gekippt" sind. Die Bankrott-Erklärung. Stadtteile mit hoher Arbeitslosigkeit, leerstehenden Gebäuden, miesen Spielplätzen und verlotterten Grünanlagen. Nur: diese "Problemviertel" sind nicht zwangsläufig Gebiete hoher Kriminalität und fast nie "Ghettos", in denen sich eine "Parallelgeschellschaft" entwickelt hätte. Der typische "gekippte" Stadtteil ist eher "sozialer Totpunkt" als "sozialer Brennpunkt".
Vituelle Slums und "no-go-areas" finden sich nicht nur bei recherchefauler Boulevardjournalisten und vorurteilsbeladenen Politikern, sondern, wie eine im Telepolis-Artikel erwähnte Studie zur Videoüberwachung zeigt, auch in den Köpfen ganz normaler Bürger.
Das Hauptargument für Videoüberwachung ist das mutmaßlich beeinträchtigte "subjektive Sicherheitsgefühl" der Bürger sowie eine gewisse Anzahl von "Kriminalitätsbrennpunkten" in der Stadt. Dabei haben diese angeblich unsicheren Orte anscheinend gerade bei jenen Menschen einen besonders schlechten Ruf, die weder dort wohnen, noch sich dort zu irgendeinem Zeitpunkt aufhalten.
Die befragten Bewohner von St. Georg, dem Innenstadtbereich, in dem auch der Hamburger Hauptbahnhof liegt, fühlen sich nach eigenen Aussagen überall in Hamburg sicher. Ihre Mitbürger aus Boberg, einem suburbanen Wohndorf am Rande Hamburgs, zeigen hingegen eine auffällige Unsicherheit vor allem in den Stadtteilen, in denen sie nie verkehren und nach eigenen Aussagen dies auch dann nicht würden, wenn dort eine Kameraüberwachung vorhanden wäre.Boberg gehört zum im Osten Hamburg gelegenen Stadteil Lohbrügge, der wiederum zum Bezirk Bergedorf gehört. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, das Boberg unmittelbar an Billstedt und an Billbrook angrenzt. Das in der Tat beinahe dörflich wirkende Boberg hat eine Besonderheit, die sich möglicherweise in den Unfragergebnissen niedergeschlagen hat: eine neu errichtete Eigenheimsiedlung, beworben als "das Dorf der Zukunft", die bewußt als Alternative zur üblichen anynomen Vorortsiedlung mit spärlicher Infrastruktur entworfen wurde. Dorfanger Boberg. Das "Dorf" zieht vor allem junge Familien mittlerer Einkommensschichten an, die sich im "normalen" städtischen Umfeld nicht wohl fühlen, aber andererseits die Annehmlichkeiten einer städtischen Umgebung nicht missen wollen. Etwas verallgemeinert ausgedrückt: wer in das "Dorf" zieht, sucht Geborgenheit. Die Bedrohung ist "da draußen", in jenen Stadtteilen "von denen man so viel hört" (in Zeitungen und von Politikern, die von Tuten und Blasen keine Ahnung haben), die man aber andererseits gar nicht kennt. Folglich ist fast ganz Hamburg auf der "Boberger Gefahrenkarte" "unsicher" (einschließlich des praktisch unbewohnten Steinwerders und einiger in Wirklichkeit "gutbürgerlicher" Viertel) oder "eher unsicher" und nirgendwo ist es wirklich "sicher". Die befragten Bewohner des innerstädtischen St.Georg fühlen sich in Hamburg überall "sicher" oder "eher sicher". Kein Wunder eigentlich, gilt doch St.Georg als "sozialer Brennpunkt" - wer täglich die Erfahrung macht, im "wilden" St. Georg sicher zu leben, der glaubt auch nicht mehr, dass es in Harburg brandgefährlich sei - egal, was die BILD oder diverse Politiker behaupten - und das auch, wenn er Harburg tatsächlich nur aus dem Zugfenster oder von der Autobahn aus kennt.
Aber auch auf der Karte der St. Georgianer gibt es "helle Flecken", Gebiete, in denen man sich "nur" "überwiegend sicher" fühlt.
Abgesehen vom übel beleumundeten Wilhelmsburg sind das die im Osten gelegenen Stadteile Billstedt, Billbrook (!) (anscheinend weiß man selbst in St. Georg nicht immer, dass da eigentlich niemand wohnt), Allermöhe (wohl wegen des Neubaugebietes Neu-Allermöhe, das eine schlechte Presse hat) und interessanterweise Lohbrügge, der Stadtteil, zu dem auch Boberg samt dem idyllischen "Dorf der Zukunft" gehört.
Ich kenne Lohbrügge recht gut, da ich hier schon seit Jahren wohne. Der Grund, weshalb Lohbrügge und der Bezirk Bergedorf, zu dem Lohbrügge gehört, "im Osten" (Hamburgs) einen schlechten Ruf genießt, hat übrigens Parallelen zur Diskussion um "national befreite Zonen" im "Osten" (Deutschlands): Lohbrügge gilt als Hochburg der Rechtsextremisten. In den 80er und 90er Jahren völlig zurecht, Lohbrügge war eine Hochburg der "Nazisklns", die DVU erziehlte (relativ) hohe Wählerzahlen. Bis sie 1993 dichtgemacht wurde, befand sich hier Zentrale der NL (Nationalen Liste). In Lohbrügge war es den Strategen um Christian Worch und Thomas "Steiner" Wulff - beide seit Jahrzehnten als Naziführer bekannt und mehrmalig vorbestraft - gelungen, 1996 den bis dahin größten Aufmarsch von Skins, Alt- und Neonazis zu organisieren.
Seitdem ist es, auch Aufgrund des Drucks der Öffentlichkeit, spricht genervter Bürger und der keineswegs kleinen linken und autonomen Szene, und wegen "interner Zerfallserscheinungen" der Neo-Nazi, ruhiger geworden. NPD, Reps und DVU spielen im Bezirk Bergedorf keine Rolle mehr. Ein 1999 geplanter Aufmarsch am "Heß-Wochenende" in Bergedorf / Lohbrügge wurde wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit verboten.
Wer Augen im Kopf hat, erkennt aber, dass es hier nach wie vor eine, wenn auch im wesendlichen "unauffällige", aktive rechtextreme Szene gibt. Flugblätter, Plakate, Aufkleber und gesprühte (meist ultra-platte) rechte Parolen zeigen, dass es in Hamburg-Ost nach wie vor mehr Rechtsextremisten gibt, als in andere Stadtteilen. Es leider immer noch immer wieder "Aktionen" gegen die "linken" Kulturzentren "Unser Haus / Cafe Flop" (in Bergedorf) und "Lola" (in Lohbrügge), darunter wiederholte Brandanschläge.
Es gibt auch nach wie vor Kneipen und Läden, die man tatsächlich als "no go area" für "femdländisch Aussehende" bezeichen könnte. (Ich nenne sIe lieber Kneipen und Läden, die man als "deutsch Aussehender" gefälligst boykottieren sollte.)
Dennoch ist Lohbrügge alles andere als eine "no go area". Es dürfte hier mehr Afrikaner geben als in halb Brandenburg, ohne dass es rasstische Zwischenfälle geben würde. Lohbrügge ist inzwischen sozusagen eine "virtuelle" Nazi-Hochburg.
Randbemerkung: "Don't get Lost in Hamburg Ost" ist ein Underground-Film, der Medien-Klischees über die Drogenszene und Rechtsextremisten mit den Mitteln des Horrorfilms satirisch durch den Kakao zieht und in Lohbrügge gedreht wurde.
MMarheinecke - Montag, 29. Mai 2006