Sonntag, 28. Mai 2006

Die Wonnen der virtuellen Bedrohung

Es ist ein (zumindest für "schlappschwänzige Liberale" und "naive Gutmenschen" wie mich) ein Skandal:
Die Zahl der Verbrechen sinkt, doch das Strafrecht wird systematisch verschärft. Wobei beides seltsamerweise der "öffentlichen Meinung" entgeht. Immer mehr Menschen werden zu Immer längeren Gefängnisstrafen verurteilt Womit nicht nur erz-konservative bis reaktionäre Klotzköppe, also die Typen, die gerne "mehr Härte" fordern, vor allem, wenn es sie nicht betrifft, schwer einverstanden sind. Die Zeiten sind - unnötigerweise - hart, und der "Zeitgeist" ist auf Abwehr, Abschreckung und (Gegen-) Angriff gestimmt.

Sabine Rückert schreibt hierzu in der "Zeit":
Ab in den Knast
»Chronik eines vermeidbaren Verbrechens«, nannte Focus TV diesen Beitrag, der am 20. Februar auf Sat.1 ausgestrahlt wurde – und gerade solche Sendungen tragen am allerwenigsten dazu bei, Verbrechen wie dieses künftig zu vermeiden. Trotzdem ist diese Art der Berichterstattung inzwischen üblich geworden, wenn es auf dem Bildschirm um Kriminalität und vor allem um Delikte gegen Leib und Leben geht: Das Thema wird gefühlsgeladen präsentiert, es wird mit allen Mitteln Stimmung gemacht gegen einen, der ohnehin auf niemandes Unterstützung rechnen kann – den Täter. Das bringt Einschaltquoten und erzeugt bei allen Beteiligten ein gutes Gefühl und nebenbei politischen Druck auf die Justiz und den vermeintlich zu weichen Gesetzgeber. Bloß gedient ist damit niemandem – dem Recht nicht, der Öffentlichkeit nicht und am allerwenigsten den Opfern. Der Sender ist der Einzige, der profitiert – auch in Carolins schrecklichem Schicksal war noch ausreichend Platz für Werbung.
Hervorhebung von mir.
via: lawblog Scheinheilig

Hierzu auch, bei Sven Scholz: Wenn politische Entscheidungen nicht mehr auf Fakten basieren Unbedingt lesen!

Journalisten sind natürlich durch den Zeitgeist - in diesem Fall von einer irreal übersteigerten Verbrechensangst - geprägt. Aber es sind nicht zuletzt Journalisten, die diesen Zeitgeist prägen. Burkhard Müller-Ullrich schrieb schon vor gut 10 Jahren:
Ein wachsender Prozentsatz aller veröffentlichten Informationen handelt von Dingen, die gar nicht stattgefunden haben, sondern bloß als Drohungen im Raum stehen. Indem jedoch dauernd neue Gefahren halluziniert werden, greift eine Art Agonie des Realen um sich, weil niemand imstande ist, den Tatsachengehalt der im Dutzend aufgeblasenen Befürchtungsmeldungen zu kontrollieren.
Medienmärchen S. 20
Diese Entwicklung ist, denke ich, unter anderem dem von Müller-Ullrich zurecht gescholtenen "Gesinnungsjournalismus" geschuldet.
Auch populistischen Politiker tragen zum panischen Zeitgeist bei, denn Gesetzesverschärfungen nach spektakulären Verbrechen bringen gute (Boulevard-)Presse und Wählerstimmen. Sicher spielt auch die "deutsche Mentalität" eine große Rolle - sowohl die im wesendlichen ungebrochene autortiäre Denk-Tradition wie auch die deutsche Passion, die "German Angst", das offensichtlich sinnstiftenden allgegenwärtige Gefühl der Bedrohung.

Aber die Durch-Kommerzierialisierung der Medien und die damit einhergehende Tendenz, dem "Medien-Konsumenten" die Last des Nachdenkens zu ersparen, scheint mir der wesendliche Nährboden zu sein, auf dem das wonnige Spiel mit virtuellen Gefahren gedeiht. Wie Sven beobachte ich außerdem eine zunehmende Vermischung zwischen "Fiktion" und "Realität" - nicht etwa in den viel gescholtenen Computerspielen, auch nicht im mit immer "realistischeren" Special-Effects arbeitenden Kino, sondern vor allem im Fernsehen. Das fängt bei den Gerichtsshows an und hört bei den modischen "Dokudramen" noch lange nicht auf.

Tatsächlich wirken die Medien hauptsächlich als Zeitgeistverstärker ohne Intelligenz-Input (Müller-Ullrich).
Rationale Sicht-und Herangehensweisen werden durch ein diffuses “Fühlen” abgelöst - so was nannte man mal "gesundes Volksempfinden", gemeint war eine brisante Mischung aus Hass, diffuser Lebensangst und blindem Glauben an "einfache Lösungen".

Aufwändige Therapien kosten Geld - und werden als “Kuscheln” diffamiert. (Denn es muß "hart durchgegriffen werden".) Auch wenn Therapie am Ende billiger sein dürfte als lebenslange Sicherungsverwahrung, mal ganz vom Leid abgesehen, dass potenziellen Opfern erspart bleibt, wenn ein Täter dank Therapie nicht rückfällig wird.

Dass Politiker auf unverantwortlichste Art und Weise diese virtuellen Ängste für ihre Zwecke nutzen liegt auf der Hand. Wer Angst hat muckt nicht auf. Totalitäre Staaten haben Propagandaministerien, die Angst, Hass und Vorurteile verbreiten, in vielen Demokratien übernehmen die Medien (vor allem das kommerzielle Fernsehen) diesen schmutzigen Job freiwillig, er bringt ja Quote. Bei den weniger kommerziellen Medien bringt es zumindest Aufmerksamkeit - die sattsam bekannten Angst-Themen erlauben es, sich ohne Anstrengungen und durch bloßes Dreschen leeren Strohs engagiert und moralisch überlegen zu fühlen.

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