Achsfolge 2'C1' (musikalisch)

"Ich habe immer eine leidenschaftliche Liebe für Lokomotiven gehabt. Für mich sind sie lebendige Wesen, die ich liebe, wie ein anderer Frauen oder Pferde liebt."
Arthur Honegger (1892 - 1955)

In den 1920er Jahren gab es Begriffe wie "Entschleunigung" noch nicht, und das allgemeine Wehklagen über Stress lag noch fast ein halbes Jahrhundert in der Zukunft. Geschwindigkeit, "Tempo", war modern. (Tempo war ein Modewort dieser Zeit, alle möglichen Produkte hießen "Tempo-irgendwas", die Tempo-Taschentücher haben sich bis heute gehalten.) Noch nicht einmal die Weltwirtschaftskrise ab 1929 bremste die allgemeine Begeisterung für alles, was schnell ist, ab. Es war die Zeit der Stromlinien-Loks und der ersten Stromlinien-Autos, der Turbinen-Schnelldampfer, der ersten Versuche mit Raketenautos und Raketenflugzeugen, der ersten Transatlantik-Flüge, der dynamisch wirkenden expressionistischen Kunst, der Zeitungen, die drei oder vier Ausgaben am Tag hatten.
Vor allem war es die große Zeit der Expresszüge und der schnellen Dampfloks. In der Musik dieser Zeit, im Schlager, im Jazz, im Blues wurden die Eisenbahn thematisiert, und wenn man darauf achtet, ist es erstaunlich, in wie vielen, auch thematisch "bahnfernen", Stücken sich das rhythmische Auspuffgeräusch der Dampfloks wiederfinden lässt.

Eine berühmte Komposition ist der "symphonische Satz" Pacific 231 des französisch-schweizerischen Komponisten Arthur Honegger, inspiriert von der Fahrt einer schweren Schnellzug-Dampflok.

Hier eine Aufnahme des Utah Symphony Orchestra, mit einem faszinierenden, aus historischen Dampflok-Filmsequenzen montierten, Video:


Arthur Honegger war Eisenbahnfan. Angeblich sah sich sich jedes Mal, wenn er mit der Bahn fuhr, vorher die die Lokomotive genau an. Aus dieser Leidenschaft entstand sein einsätziges Orchesterwerk "Pacific 231", das er 1923 schrieb und das am 8.Mai 1924 in der Pariser Oper uraufgeführt wurde.

Arthur Honegger gehörte der "Group des six" an, einem Zusammenschluss von Musikern, die zwar nicht zusammen musizierten, jedoch aber den selben Standpunkt zum Thema Komposition vertraten. Die Gruppe bildete sich 1918 um den Schriftsteller und Universalkünstler Jean Cocteau, ihr musikalischer Mentor war Eric Satie. Die sechs Musiker wandten sich zeitgenössischen Formen der Unterhaltungsmusik wie etwa Jazz- oder Varieté-Musik zu und von der Anfang des 20. Jahrhunderts in der symphonischen Musik vorherrschenden romantischen und impressionistischen Form ab. (Über die in Deutschland bis heute vorherrschende Trennung von "E"- und "U"-Musik hätten sie wahrscheinlich nur den Kopf geschüttelt.)

"Pacific" ist eine auch in Europa gebräuchliche Bezeichnung aus dem amerikanischen Eisenbahnerjargon für Dampflokomotiven mit einem vorauslaufenden Drehgestell mit zwei Laufachsen mit kleinen Rädern, drei angetriebenen Kuppelachsen mit Rädern um die 2 m Durchmesser und einer Laufachse mit kleinen Rädern. Das sieht etwa so aus: ooOOOo .

Bayrische Schnellzuglok S 3/6
Bayrische Schnellzuglok der Gattung S 3/6, eine "Pacific". "S" steht für "Schnellzuglok". Nach dem bayrischen System steht die Zahl vor dem Schrägstrich für die Anzahl der angetriebenen Achsen, die dahinter für die der Achsen insgesamt. "3/6" also "3 angetriebene Achsen, 6 Achsen insgesamt".

Nach dem in Deutschland gebräuchlichem UIC-Achsformel-System wird diese Achsfolge als 2'C1' bezeichnet: 2' steht für zwei Laufachsen in einem Drehgestell, C für drei angetriebene Achsen, und 1' für eine drehbar gelagerte Laufachse.

Nach der in Großbritannien und den USA üblichen Whyte-Notation wird die Pacific-Achsfolge als 4-6-2 notiert: vier Laufräder, sechs angetriebene Räder, zwei Laufräder.

Das französische Achsformel-System ist ähnlich wie das britisch-amerikanische, zählt jedoch die Achsen anstatt der Räder und verwendet keine Trennstriche - eine "Pacific" ist also eine 231.
Da Honegger die meiste Zeit in Frankreich lebte und arbeitete, ist "seine" schwere Schnellzuglok also eine "Pacific 231".

Lokomotiven der Bauart "Pacific" gehörten vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Ende der Dampflokzeit zu den schnellsten Dampflokomotiven überhaupt - und wegen ihrer langgestreckten Kessel und der großen Antriebsräder auch zu den elegantesten.

Das führende Drehgestell sorgt für einen sicheren und ruhigen Lauf bei hohen Geschwindigkeiten und ist notwendig, um das Gewicht des besonders groß dimensionierten Kessels mit zu tragen. Drei Treibachsen sind das Minimum, um eine hohe Zugkraft zu erreichen, aber auch fast das Maximum, um die großen Treibraddurchmesser und damit die hohe Geschwindigkeit erzielen zu können. (Güterzug-Dampflokomotiven haben bis zu 8 angetriebene Achsen, aber kleinere Räder.) Die Nachlaufachse trägt ebenfalls einen Teil der Gesamtmasse und erleichtert den Einbau einer großen Feuerbüchse.

Darüber, woher der Name "Pacific" kommt, gibt es mehrere Hypothesen: entweder ist er eine Steigerung, da die vor der Einführung der "Pacifics" größten und schnellsten Lokomotiven "Atlantic" - Achsfolge 2'B1' oder 4-4-2 oder 221 - hießen. Die "Atlantics" wurden nach den 1894 an die US-amerikanische "Atlantic Coast Line Railroad" gelieferten Loks benannt. Eine andere Möglichkeit ist, dass die "Pacifics" nach den nordamerikanischen Transkontinentalstrecken (z. B. "Union Pacific", "Northern Pacific" oder"Canadian Pacific") benannt wurden.

"Pacific 231" beschreibt mit musikalischen Mitteln die Fahrt mit einem schnellen Dampfzug, angefangen vom Anfahren über das Erreichen der Höchstgeschwindigkeit bis hin zum Stillstand.
Dabei wollte Honegger nicht etwa die Geräusche der Lokomotive nachahmen, sondern einen visuellen Eindruck und ein physisches Wohlbefinden, eine ästhetische Darstellung von Kraft und Bewegung, einen 300 Tonnen schweren Zug bei 120 km/h, in einer musikalischen Form zum Ausdruck bringen.

Trotzdem erinnert sein Stück an den Klang einer fahrenden Schnellzuglok. Wer genau hinhört kann sogar heraushören, dass Honeggers "Pacific 231" ein Vierzylinder-Verbundtriebwerk hat ...

Nachtrag:
Sehr sehenswert: Der Kurzfilm "Pacific 231" von 1949 - Regie Jean Mitry.


Mitry unterlegte sein "filmisches Essay" der Fahrt der Pacific 231 E.24 der S.N.C.F. mit Honeggers Orchesterwerk Bemerkenswert ist dieser Kurzfilm wegen seines damals Aufsehen erregenden Schnitts nach der Musik (für den es die "Goldene Palme" in Cannes und eine Oscar-Nominierung gab) und seiner faszinierenden, in voller Fahrt aufgenommenen, Nahaufnahmen der Mechanik der Lok. Arthur Honegger persönlich dirigierte das im Film zu hörende Symphonieorchester.

Trackback URL:
https://martinm.twoday.net/STORIES/6384349/modTrackback

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Geheimauftrag MARIA STUART...
Krisenfall Meuterei Der dritte Roman der Reihe "Geheimauftrag...
MMarheinecke - 9. Apr, 19:42
Urlaubs-... Bräune
Das "Coppertone Girl", Symbol der Sonnenkosmetik-Marke...
MMarheinecke - 1. Aug, 08:34
Geheimauftrag MARIA STUART...
Ahoi, gerade frisch mit dem Postschiff eingetoffen. Der...
MMarheinecke - 26. Mär, 06:48
Kleine Korrektur. Man...
Kleine Korrektur. Man kann/sollte versuchen die Brille...
creezy - 11. Nov, 11:29
strukturell antisemitisch
Inhaltlich stimme ich Deinem Text zwar zu, aber den...
dummerle - 5. Jun, 11:12

Suche

 

Status

Online seit 6723 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:08

Credits


doof-aber-gut
Gedankenfutter
Geschichte
Geschichte der Technik
Hartz IV
Kulturelles
Medien, Lobby & PR
Medizin
Persönliches
Politisches
Religion, Magie, Mythen
Überwachungsgesellschaft
Umwelt
Wirtschaft
Wissenschaft & Technik
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren