SuperSize Me! - oder: die christliche Moral des Fressens

Dass es auf die Dauer nicht gesund ist, sich ausschließlich von Hamburgern & Fritten zu ernähren, ist eine Binsenwahrheit. Ebenso, dass Essen, bis der Magen sperrt und die Zunge hochkant steht, auf mittlere Sicht ein sicheres Rezept zum Aufbau erheblichen Übergewichtes ist.
Dass man sich aber als gesunder, schlanker junger Mensch innerhalb eines Monats mit den Produkten von "McDoof" nicht nur die Figur, sondern auch den Cholesterinspiegel, die Leber und die Potenz ruinieren könne, das war das Aufsehen erregende Ergebnis eines Selbstversuches Morgan Spurlock. Dokumentiert in Spurlocks erfolgreichem Film SuperSize Me, der z. Z. in einige 3. Fernsehprogramme zu sehen ist. (Z. B. heute Abend um 23.30 Uhr auf BR3 ).
Als der Film in die Kinos kam, kam auch Skepsis auf. Zum Beispiel bei meinem mich regelmäßig ob meines (unspektakulären) Übergewichts mahnenden Arzt, der zu SuperSize Me meinte: "In nur einem Monat geht das nicht! Allenfalls mit Anabolika." Ihm fiel auch auf, dass den genannte Anfangs-Cholesterinwert Spurlocks nicht "normal", sondern "sensationell niedrig" - und der nach dem Versuch "etwas erhöht, aber nicht auffällig" gewesen wäre.

Mit seiner Skepsis steht mein guter Doc nicht allein. Eine schwedische Studie, geleitet von Prof. Fredrik Nyströms, überprüfte die Folgen einer massiven Überernährung bei Bewegungsarmut unter Laborbedingungen. Dazu verdoppelten 18 Studenten ihre Kalorienzufuhr durch Fastfood und vermieden dabei sich zu bewegen. Die schwedischen Studie kam zu völlig anderen Ergebnissen als Super Size Me. Als größtes Problem bezeichneten die Versuchspersonen, die geforderten Kalorien zu verzehren. Zum Teil wurde Speiseöl getrunken (!), um auf die geforderte Kalorienzahl zu kommen. Die Gewichtszunahme war längst nicht so drastisch wie bei Spurlock - und vor allem: Nach Ende des Versuchs verloren alle Teilnehmer das Gewicht wieder "von selbst", d. h. ohne drastische Diäten, einfach durch normale Ernährung und Bewegung.
Nyströms Experiment an der Uni Nyköping, auf SZ-online: Fressen für die Forschung.
Zum selben Thema, auf der Website von D-Radio-Kultur: Supersize me revisited.
Interview auf D-Radio-Kultur mit dem Ernahrungswissenschaftler Dr. Pollmer über das schwedische Experiment (mp3): Mahlzeit!.
Pollmer auf "EU.L.E.n-Spiegel": Dickes Ende: Super Size Me.
Pollmer hat, wie mein Arzt, den Verdacht, dass Spurlook mit Anabolika "nachgeholfen" hätte. Leberfunktionsstörungen und Impotenz sind bekannte Nebenwirkungen massiven Anabolikamissbrauchs.

Pollmer kommt in seinem Artikel zu einem vernichtenden Fazit:
Nehmen wir einmal an, es wäre alles mit rechten Dingen zugegangen und Spurlock wäre „nur“ vier oder fünf Kilo schwerer geworden, ganz ohne Impotenz und Cholesterin: Dann hätte kein Hahn nach ihm gekräht und sein Film wäre allenfalls als das Werk eines Verrückten in die Filmgeschichte eingegangen. Das Publikum hat für jemanden, der sich mutwillig überfrisst – egal ob mit Fritten, Bratwürsten oder Schokoriegeln – nur stille Verachtung übrig. Wer auf die Medien spekuliert, braucht dramatische Befunde. Und was Studien nicht leisten, gelingt mit Kamera und Filmschnitt scheinbar mühelos.
Es ist tatsächlich möglich, sich mit "falscher Ernährung" auf lange Sicht die Gesundheit zu ruinieren. Soweit, so unstrittig. Was meiner Ansicht nach gern übersehen wird, ist, dass es meistens tieferliegende Ursachen hat, wenn sich jemand falsch ernährt: psychische Ursachen wie Depressionen oder chronischer Stress, körperliche Ursachen, z. B. im hormonellen Bereich, oder vielleicht auch frühkindliche Einflüsse, wie eine drastische Erziehung, ja bloß den Teller leer zu essen. Also Störungen der körperlichen Selbstwahrnehmung, wie beim genauen Gegenteil, der Magersucht. Und keine "Ernahrungssünden" (!) aus (moralischer?) "Schwäche" gegenüber der "Lust".
Woher diese Besessenheit, hinter jeder Krankheit erst mal den Faktor "falsche Ernährung" zu vermuten? Wenn man einschlägigen "Ratgebern" glaubt, gibt es angeblich keine Krankheit mehr, die nicht mit "gesunder Ernährung" vermeidbar wäre.

Pollmer hat da eine Erklärung, die mir sehr plausibel erscheint:
(...) Unser Geschmack ist keine böse Laune der Natur, er hat einen evolutionären Sinn. Freude am Essen ist überlebensnotwendig. Wenn wir unserer Natur entsprechend handeln, empfinden wir Freude, wie bei der Sexualität. Aber wir wittern hinter jedem Genuß Fallstricke des Teufels.
DIE WELT: Steckt dahinter protestantische Verzichtsethik?
Pollmer: Das christliche Denken nahm uns die Freude am Körper. Das Christentum kämpfte lange gegen antike Religionen, die das Wirken des Schöpfers nicht nur im Geistigen, sondern auch im Körperlichen sahen. Es forderte zum Sieg des Geistes über das böse Fleisch auf, über den eigenen Körper, die Sexualität, den Appetit...
DIE WELT: ...etwa nach der Devise: Wir essen, um zu existieren, unsere Existenz ist von der Erbsünde belastet, also ist Essen Gottesfrevel.
Pollmer: Genau. Erst die Entsagung bringt den Menschen dem verlorenen Paradies näher. Wenn Medien oder Experten über das Essen berichten, fällt das Wort "Eßsünde". Man muß sich das mal auf der Zunge zergehen lassen! Sünden bewirken Schuld, Schuld fordert Buße - und natürlich Schuldige, die bestraft werden müssen.
(Das ganze Interview, auf WELT-online: Der Körper holt es sich.)
Köppnick - 2. Mai, 21:36

Überschlagsrechnungen

Ich habe mal mit ein paar Zahlen jongliert, um die Größenordnungen abschätzen zu können:
  • Ein Büroarbeiter verbraucht etwa 2400 kcal am Tag,
  • ein Schwerstarbeiter bis 5500 kcal,
  • bei extremen sportlichen Belastungen (Tour de France, Höhenbergsteigen) können bis zu 10.000 kcal je Tag verbraucht werden.
  • Das menschliche Verdauungssystem verkraftet maximal 7000 kcal je Tag.
  • Ein Gramm Körperfett enthält etwa 6 kcal / g, weil im Ggs. zu reinem Speisefett hier auch noch Wasser u.ä. enthalten ist.
  • Bei moderatem Dauerlauf verbraucht man etwa 1 kcal je kg Körpergewicht und km Strecke.
Jetzt kann man die Zahlen zu verschiedenen Aussagen kombinieren:
  • Ein Büroarbeiter kann am Tag maximal 750 g zunehmen, was in 30 Tagen 20 kg entspricht. - Falls er das mit seinem Kreislauf verkraftet.
  • Bei extremen sportlichen Beansprungen wie der Tour de France kann man ohne Anabolika nicht vorn mitfahren. (Das ist keine Behauptung von mir, sondern eine Schlussfolgerung, die vor etwa 10 Jahren, also vor dem Beginn der heutigen Skandale, auf einem Sportmedizinerkongress diskutiert wurde. Möchte man eine saubere Tour de France, muss man die Streckenlängen verringern oder nur jeden zweiten Tag fahren o.ä.)
  • Spitzensportler bekommen diese großen Kalorienmengen definitiv in sich hinein, und zwar nicht in Form von Ölen, die das Verdauungssystem sehr stark beanspruchen, sondern überwiegend in Form von Kohlehydraten. (Allerdings gibt ihr Körper die Kalorien relativ zeitnah auch wieder aus, eine Speicherung in Form von Fetten erfolgt kaum.)
  • Das die 7000 kcal tatsächlich etwa die Größenordnung darstellen, die der Körper auf längere Zeit verkraftet, sieht man an Ausdauerläufern, die ein Vierteljahr oder länger jeden Tag 100 km gelaufen sind: 100 km * 60 kg Körpergewicht -> 6000 kcal + Grundumsatz in der Ruhephase -> 7000 kcal.
Das bedeutet, dass von der rein kalorischen Betrachtung seine Gewichtszunahme möglich erscheint. Er muss keine Anabolika genommen haben, aber Magen- und Kreislaufmedikamente brauchte er sicherlich. Denn ½ kg Fett jeden Tag aus dem Magen-Darmsystem über den Blut- und Lymphkreislauf in die Körperzellen zu transportieren und dort einzulagern – allein von dem Gedanken wird einem schlecht. Diese Medikamente führen ebenfalls zu messbaren Schäden an allen möglichen Organen. Ohne Medikamente hält man diese Mastkur wahrscheinlich nicht durch.

MMarheinecke - 2. Mai, 22:25

An der Uni Nyköping hat man es ja ohne Medikamenten ausprobiert

und zwar mit dem bemerkenswerten Ergebnis, dass der Blutfettspiegel der meisten Probanten nicht entgleiste. Interessant auch, wie groß die individuellen Unterschiede waren, und das trotz Bewegungseinschränkung die meisten Probanten außer Fett auch Muskelgewebe aufbauten. (Das spricht übrigens gegen die Anabolika-Hypothese, denn tendenziell wäre der Muskelaufbau dann noch größer - dazu ist der "Stoff" schließlich da.) Ich vermute, dass im Film mit der Laufzeit der "Mastkur" manipuliert wurde. Halbes Jahr statt einen Monat oder so. Wäre allerdings unspecktakulär.

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