"Werbung, die nicht mehr geht" - nicht immer aus gutem Grund

Wer sie noch nicht kennen sollte, sollte sie sich einmal ansehen - alte (US-amerikanische) Werbeanzeigen, die heute nicht mehr funktionieren würden.
Ad’s That Just Don’t Work Anymore.
Zusammengefasst: aus heutiger Sicht sind viele der Werbeanzeigen unglaublich sexistisch, konkret: frauenverachtend. Erstaunlich auch, mit welcher Frechheit Produkte, die auch damals schon im berechtigte Ruf standen, ungesund zu sein, beworben wurden. ("More Doctors smoke Camels than any other cigarette.")

Nach einigen amüsierten, erstaunten und manchmal entsetzten Momenten drängte sich mir ein Gedankengang auf, den Antje Schrupp auf twitter in einem Satz zusammenfasste:
Ich frage mich bei sowas immer, was wir wohl heute für völlig normal halten und in 30 Jahren alle facepalmen.
Ich würde mich freuen, wenn z. B. "Greenwashing" künftig genau so lächerlich und unverschämt wirkt, wie heute z. B. die damaligen Versuche der Tabakindustrie, die Gesundheitsgefahren des Rauchens herunterzuspielen. (Lesetipp dazu: Das Märchen vom grünen Riesen (spon) und die Greenwash-Studie (pdf) von LobbyControl.)

Allerdings enthält die kleine Sammlung der Werbeunglaublichkeiten eine Anzeige - und zwar ist es ausgerechnet die erste - die ich gar nicht schlimm finde: "Why did we put our heads together? To save money! Bradley Group Showers"
Ich könnte mir vorstellen, dass diese Werbung für Gruppenduschen noch heute funktionieren könnte - allerdings nicht in den USA.

Der Wandel der gesellschaftlichen Normen, der aus dieser alten Werbung spricht, ist meiner Ansicht nach ambivalent.

Noch deutlicher wird das anhand einer alten deutschen Werbung, die ich vor längerer Zeit schon einmal vorstellte - eine "Höhensonnen"-Werbung aus dem Jahr 1966.
hoehensonne

Sie wäre heute aus einem guten und einem schlechten Grunde kaum noch denkbar.
Der gute Grund ist der, dass UV-Bestrahlung von Kindern gesundheitlich bedenklich ist und kein Solarienhersteller mehr auf die Idee käme, seine Produkte für die Gesundheitsvorsorge für Kinder zu empfehlen. (Allerdings ist auch dieser "gute Grund" etwas ambivalent: die Hautkrebsprävention kippte in eine "Sonnenpanik" um, die wohl eine Ursache des dramatischen Anstieg des Vitamin D-Mangels sein dürfte. An dem sollen über die Hälfte der Kinder leiden - jedenfalls, wenn man den Herstellern von Vitamin-D-Präparaten glaubt.)
Der schlechte Grund ist der, dass es seit Anfang der 1990er Jahre üblich geworden ist, bei Kinderfotos sofort mitzudenken, wie diese wohl auf "Pädophile" wirken könnten. Was an sich nicht falsch wäre, wenn die Besorgnis nicht längst in Hysterie umgeschlagen wäre, und wenn es nicht ziemlich gefährliche Vorstellungen darüber gäbe, wie "Kinderschänder" "ticken". Ich nenne nur die "Anfixhypothese", die in der Debatte um die Internetsperren eine unrühmliche Rolle spielte, und in der Nacktfotos von Kindern die Rolle einer "Einstiegsdroge" in die "harte Kinderpornographie" einnehmen.
Um es noch einmal zu sagen: "Kinderpornographie" ist keine Pornographie, sondern die Darstellung einer tatsächlich stattgefundenen sexualisierten Misshandlung eines Kindes.
Was bei Fotos wie dem auf der alten "Höhensonnen"-Werbung nicht der Fall ist.

Um auf Antjes Frage zurückzukommen: Ich fürchte, dass es nicht nur einen positiven Wandel in Richtung weniger Diskriminierung und mehr Verbraucherschutz in der Werbung gibt.
Ich fürchte einen Wandel hin zu sehr konservativen und sehr repressiven Moralvorstellungen, der von der stets opportunistischen Werbung flankiert wird.
Vielleicht "funktioniert" Werbung mit religiösen Anspielungen in einigen Jahren nicht mehr - und zwar aus Angst vor Fundi-Christen und Fundi-Moslems? Oder es wird es umgekehrt bald "ganz normal" sein, sich in der Werbung über "Unterschichtler" und "Sozialschmarotzer" lustig zu machen? Sind ja eh keine kaufkräftige Zielgruppe!
Joy (Gast) - 20. Jun, 23:12

-und wenn es nicht ziemlich gefährliche Vorstellungen darüber gäbe, wie "Kinderschänder" "ticken"-

Magst du das noch etwas mehr praezisieren ?
Wie ist die Vorstellung? Und was findest du an besagter gefaehrlich?

MMarheinecke - 21. Jun, 10:22

Keine einfache Frage ...

Ein Problem liegt schon mal daran, was unter "Kinderpornographie" (schrecklich irreführender Begriff) verstanden wird - zu dieser Problematik verweise ich auf Christian Bahls: Kinderpornographiedefinition der EU

Sehr gefährlich ist die immer noch weit verbreitete Vorstellung, dass die größte Gefahr für Kinder "von draussen" käme und von "Fremden" ausginge. Wie Du weißt, passiert das Meiste im "familären Nahraum".

Einer der grundsätzlichen Irrtümer, den ich für gefährlich halte, ist die Vorstellung, dass und Menschen, die Kinder sexuell misshandeln, allesamt "Pädophile" seien. Die meisten Sexualstraftäter sind "normal" veranlagt. Nur eine Minderheit unter den "Pädophilen" sind auch "Pädokriminelle" - die meisten "Kinderschänder" (ein dummes Wort: dem Kind wird keine Schande angetan, sondern Gewalt - darum geht es immer wieder und wieder: sexualisierte Gewalt!) sind nicht pädophil, und längst nicht alle Pädophilen werden zum Täter, geschweige Gewalttäter.
(Dazu habe ich in der Komentarsektion von Politisches Weltbild "Grundschule" schon mal geschrieben.)
Joy (Gast) - 21. Jun, 19:08

Ah, da sind wir durchaus auf einem Nenner. Vor Jahren waren es mal geschätzte 3% der Täter, denen auch tatsächlich eine pädophile Neigung zugeschrieben wurde. Ich finde diese, hm ich will fast sagen Pädophilenhetze fatal, da sie eigentlich fast immer wahnsinnig undifferenziert ist.

Die Kehrseite davon ist halt, dass sich Erwachsene zunehmend schwer tun, ein Kind als ein sexuelles Wesen zu sehen (Vorsicht: das meine ich nicht im Sinne einer "Erwachsenen Sexualität"). Das wirkt sich natürlich auf das Sexualverständnis und vor allem das gesunde Körperverhältnis der Kinder extrem aus. Da wird bei "schauen, wie ein anderes Kind aussieht" schon gleich "Mißbrauch" gebrüllt.

Ein natürlicher, unbefangener Umgang mit dem Thema ist den meisten Kindern so leider nicht möglich.

Aber, ich rege mich zu sehr auf und schweife ab...
Wirr-Licht - 21. Jun, 10:15

....der von der stets opportunistischen Werbung flankiert wird. ...

hey, werbung ist immer opportunistisch, das muss sie ja, sie will ja dem kunden (welcher hoffentlich kaufkräftig, viele sein soll) schmeicheln und ihn nicht vergraulen.

wären die vielen kaufkräftigen personen in unserer gesellschaft alles hippies, würde unsere werbung wahrscheinlich auf recyclingpapier gedruckt werden und für jedes gekaufte produkt ein baum gepflanzt werden. oder so ähnlich. und modells würden weder schminke noch BH tragen.

aber progresiv - unmoralische werbung? das würde ja nur zu skandalen und geschrei führen

banger - 21. Jun, 10:50

Kleiner Hinweis am Rande:

Der Link zu LobbyControl ist fehlerhaft gesetzt.

MMarheinecke - 21. Jun, 11:59

Danke für den Hinweis! Ist repariert!
MMarheinecke - 21. Jun, 14:27

Einige der hier gesammelten Anzeigen würden heute wahrscheinlich nicht mehr "gehen":
Werbe-Anzeigen - mit Motiven aus der Freikörperkultur

Wirr-Licht - 22. Jun, 08:24

jo

MMarheinecke - 22. Jun, 09:33

Genau die "nackte Dicke am Strand" war in den 1970ern absolut "Kult". Diese Anzeige von 1972 wurde bis mindestens ca. 1977 immer wieder geschaltet und das Plakat hing in sämtlichen Fotogeschäften. Wir hatten sie sogar als Plakat in unserem Klassenraum hängen. (7. Klasse), interessanterweise fanden gerade die Mädels das toll (wohl, weil schon damals in der Werburg "Magerzicken" dominierten). Und konservative Lehrer konnten sich so herrlich darüber aufregen.
MMarheinecke - 22. Jun, 12:30

Auch "Fachleute" verbreiten falsche Vorstellungen

Allein die Abbildung von nackten oder fast nackten Kindern könne bei entsprechend veranlagten Personen einen Schlüsselreiz darstellen, warnt der Verband.
Ärzte gegen Werbung mit nackten Kindern

Wenn es nach "Schlüsselreizen" ginge: unter Umständen könnte jede Abbildung eines Kindes (vom Anblick eines echten Kindes selbst ganz zu schweigen) einen "Pädophilen" ansprechen. Abgesehen davon, dass die ganz überwältigend große Mehrheit derjenigen, die tatsächlich sexualisierte Gewalt gegen Kinder verüben, überhaupt nicht auf solche "Reize" anspricht, weil sie eben nicht pädophil sind!

Ein anderer Aspekt ist für mich nachvollziehbarer (wenn auch bestimmt nicht annähernd so "publikumswirksam"):
Zudem verböte auch das Selbstbestimmungsrecht eines Kindes, mit seinem nackten Körper zu werben.
Da Kinder wahrscheinlich gar nicht beurteilen können, für was und wie mit ihnen geworben wird, also eine "informierte Zustimmung" zu Werbefotos gar nicht möglich ist, wäre es so gesehen konsequent, gar nicht mit Kinderfotos zu werben.
Für viel problematischer indes, als mit Kindern zu werben ist es meines Erachtens, für Kinder zu werben, d. h. die Kinder als "Zielgruppe" anzusprechen.
Was mir aber aufstöst: "mit seinem nackten Körper" (und nicht einfach: "mit seinem Körper") - da vermute ich eine Gleichsetzung von "Nacktheit" und "sexuellem Reiz" - in dem Sinne: "wer mit nackten Kindern wirbt, spricht (latent) Padophile an".

Wobei der BVKJ ja in seinen Broschüren ja durchaus Fotos "fast nackter" Kinder - in Windeln oder Badehose - hat. Was ich ihm nicht als "inkonsequenz" ankreide, sondern was meiner Ansicht nach zeigt, worum es wirklich geht: Symbolpolitik "etwas tun" (egal was), "Zeichen setzen" (egal welche) - und zeigen: man gehört zu denen mit der "richtigen Moral".
(Am meisten stößt mir aber auf, wie unkritisch der BVKJ gegenüber der Pharmaindustrie zu sein scheint. Aber das ist ein anderes Thema ... )

romeomikezulu - 22. Jun, 16:22

Stimmt genau: In 20 Jahren wird jedwede Werbung mit religiösem oder religiössymbolhaften Inhalt ein "no go" sein.
Weil man es sich keinesfalls mit dem bis dahin -wetten?- wichtigsten Außenhandelspartner versemmeln will und weil bis dahin sowieso Keiner mehr Spaß verstehen wird.
Und bestimmt wird es hierzulande auch keinerlei Werbung mit Kindern mehr geben, weil

a) es sich bis dahin nicht mehr sonderlich lohnt, eine Randzielgruppe als Käuferschicht anzuwerben (die Windel-Werbung wird allerdings wieder klar ausgebaut - allerdings mit anderen Protgagonisten in den Werbefilmchen als heute) und

b) weil kein Kind in der Lage ist, sein informelles Selbstbestimmungsrecht rechtlich sauber freizugeben - und damit auch seinen Auftritt in Werbevideos (komisch, dass die EU das bisher nur bei Promi-Kindern aufm tracker hat).
Und wir werden mit voll animierten Kinder-Figuren in den Werbesendungen leben müssen und uns fragen, ob das alles so der Sinn der Sache war.

Wirr-Licht - 23. Jun, 13:05

am besten

wäre es, wenn ein paar Leute ihre Paranoia, Ängste und Intoleranz (in Sachen Religion) mal überdenken würden.

dann würden fröhlich-scherzend christen mit muslimen ficken. und zwar schwule.

aber wahrscheinlich kommt es eher so, das die kirchen ihre putti mit freischwebenden schambedeckungstüchern zensieren.

siehe harm bengen, astaroth, sandra bodyshelly:

http://www.harmbengen.de/BengenHome.sb6.html
Wirr-Licht - 24. Jun, 10:11

ach ja

guck mal, was bei mir so passiert ist:

http://wirrlicht.twoday.net/stories/6393656/

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