Erinnerungen für die Zukunft - vor 75 Jahren ...

... wurde das am 14. Juli 1933 beschlossene Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses im Reichsgesetzblatt verkündet.
Im Namen der "Volksgesundheit" wurden bis zu. 400.000 Menschen sterilisiert, fast alle gegen ihren Willen. Davon die wenigsten tatsächlich "erbkrank", also Träger einer genetisch bedingter schweren Krankheit. (Und selbst in solchen Fälle ist eine zwangsweise Sterilisation ein nicht hinnehmbarer Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht und die Menschenwürde des "Erbkranken!) Als "Erbkrankheiten" galten auch Schizophrenie und manisch-depressive Erkrankungen. Auch schwerer Alkoholismus war eine "Indikation" für Sterilisation!
Die meisten Opfer der Zwangssterilisation waren denn auch "Asoziale" - tatsächlich hing es sehr vom sozialen Status und der Volksgruppenzugehörigkeit ab, ob jemand zwangsweise sterilisiert wurde oder nicht.

Ein typisches "Nazigesetz" also? Ein Relikt aus der Vergangenheit, vor dem man gefahrlos Abscheu äußern kann, um so nach 75 Jahren die Nazis von gestern zu "bekämpfen"?

Leider nein! Zuerst fällt bei diesem Gesetz auf, das es auf den ersten Blick wie eine freiwillige "Kann"-Regelung wirkt. Auf den zweiten Blick kann von "Freiwilligkeit" kaum noch die Regel sein, denn den "Antrag auf Unfruchtbarmachung" konnten auch die gesetzliche Vormünder entmündigter oder minderjähriger Menschen stellen, oder
§ 3
Die Unfruchtbarmachung können auch beantragen
der beamtete Arzt,
für die Insassen einer Kranken-, Heil- oder Pflegeanstalt oder einer Strafanstalt der Anstaltsleiter.
Die meisten Sterilisierungen wurden aufgrund dieses § 3 vorgenommen. Wäre es wirklich nur um freiwillige Sterilisierungen gegangen, wäre das Gesetz überflüssig gewesen. Solche auf den ersten Blick akzeptabel klingende Gesetze, deren wahrer Sinn im "Kleingedruckten" steckt, sind wirklich keine Nazi-Spezialität.

Ähnliche Gesetze gab es auch in Ländern, die keine Diktaturen und schon gar keine Rassistenregimes waren, z. B. in den skandinavischen Ländern: in Dänemark bestand die Zwangsterilisation bis 1967, in Schweden bis 1975, in Finnland sogar bis 1979.
In meinem Artikel Auch Eugenik war mal Konsens gehe ich näher auf die gesellschaftlichen Gründe für Zwangsterilisationsgesetze ein - nur soviel an dieser Stelle: Man kann verallgemeinert sagen, dass eugenische Gesellschaftsutopien und auf sie gerichtet Programme dort gedeihen, wo der einzelne Mensch in erster Linie als
"Menschenmaterial", als Mittel zu einem höheren Zweck gesehen wird, was nicht auf totalitäre Staaten beschränkt ist.
Eugenik-Programme entstanden und entstehen nicht etwa aus der Motivation heraus, "Übermenschen" zu züchten (noch nicht einmal bei den Nazi spielte das eine große Rolle), die Motivation liegt darin, die "Volksgesundheit" zu verbessern - auch indem man die Kranken schlachtet. Weshalb ich bei Gesundheitsdiskursen, bei denen nicht die Gesundheit des Einzelnen, sondern die der "Bevölkerung" im Mittelpunkt steht, misstrauisch bin.
"Eugenik" bedeutet nach international übereinstimmendem Verständnis das dirigistische Bestreben nach einer - wie auch immer definierten - "Verbesserung" des kollektiven Erbgutbestandes einer Population, etwa eines "Staatsvolkes". (Was z. B. bei der Debatte etwa um die Präimplantationsdiagostik gern "vergessen" wird.)

Immerhin haben die Humangenetiker, nachdem sie jahrzehntelang nicht "nur" "NS-Belastete", sondern sogar ausgesprochene Rassisten in ihren Reihen duldeten, ihre "Hausaufgaben" gemacht: Die "Deutsche Gesellschaft für Humangenetik" hat anlässlich des 75 Jahrestages des "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" endlich öffentlich die Verantwortung deutscher Wissenschaftler für den Massenmord an behinderten Menschen im Nationalsozialismus eingeräumt. Deutsche Genetiker trifft "schwere Schuld". (Wobei mir der Begriff "Verantwortung" deutlich besser gefällt als der der "Schuld".) Besonders wichtig erscheint mir folgende Aussage der Gesellschaft für Humangenetik:
"Das Verhalten der Humangenetiker ist umso unverständlicher, als auch beim damaligen Kenntnisstand der Genetik die biologische Unsinnigkeit der Eugenik offenkundig war."
Dass selbst bei behinderten Frauen zu 90 % kein Risiko einer Weitergabe der Behinderung besteht, war schon um 1930 bekannt. Es war auch bekannt, dass rezessive Krankheitsanlagen, die nicht zum Ausbruch einer Erkrankung führen müssen, viel zu weit verbreitet sind, als dass sie durch Sterilisierung "Erbkranker" ausgeschaltet werden könnten.

Die Eugenische Argumentation im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Inzestverbot, die übrigens sachlich falsch ist, ist nur ein markantes Beispiel für das Weiterwirken "eugenischen" Denkens.

Noch eine Randbemerkung zur Reaktion der katholische Kirche: es stimmt zwar, dass die deutschen Bischöfe Protest gegen die Maßnahmen der Nationalsozialisten einlegten. Doch die Sterilisationen stießen bei ihnen deshalb auf Widerstand, weil sich den Behinderten nun die Möglichkeit zum unbeschwerten Sex, ganz ohne die Sorge um unerwünschten Nachwuchs, eröffnete. In den Augen der katholischen Kirche war das eine schwere Sünde.
„Die Vertreter des Episkopats machten [...] darauf aufmerksam, daß mit der Durchführung des Gesetzes für die private und öffentliche Sittlichkeit große Gefahren sich ergeben; denn die sterilisierten Männer und Frauen können sich nun ihrem Geschlechtsleben hemmungslos überlassen, da ja aus dem Verkehr keine Nachkommen entstehen. Von Seiten der Regierung wurden hier Schutzmaßnahmen zugesagt."
(Zitiert nach hpd.de: Vor 75 Jahren...)
Zur damaligen Haltung der evangelischen Kirche, hpd-de: Ein evangelisches Wort...

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