Ich bin nun stolzer Besitzer eines Wikingerschiffs

Leider keines echten, sondern eines Modellbausatzes, den ich heute gekauft habe.

Unmittelbarer Kaufanlass waren Studien für ein Gemälde, das ich demnächst malen möchte. Die perspektivische Darstellung von Wikingerschiffen erwies sich wegen der vielen geschwungenen Linien wieder einmal als sehr schwierig - da kam ich auf die Idee, dass ein plastisches Anschauungsobjekt nicht schlecht wäre. (Genau so, wie anatomisch korrekte Puppen beim Zeichnen von Menschen hilfreich sind.)
Hier zur Verdeutlichung eine meiner älteren Zeichnungen eines Wikingerschiffs - für das ich ein Foto als Vorbild nahm, was allerdings die freie Gestaltungsmöglichkeit einschränkt:
schiff01
Der andere Grund: Ich habe vor, irgendwann mal ein schönes, großes Segelschiffsmodell zu bauen. Da ich seit über 15 Jahre kein Segelschiffsmodell mehr gebaut habe, und auch meine damaligen Versuche nicht unbedingt überzeugend waren, dachte ich mir, es könnte hilfreich sein, erst mal ein Modell mit einfacher Takelage zum Üben zu bauen, dann ein mittelschweres, und dann erst mein "Traumschiff". Außerdem habe ich es sowieso mit den Wikingern.

Zum Kauf musste ich erst einen gewissen inneren Widerstand überwinden, denn die Illustration auf dem Karton ist einfach grauenhaft, ebenso die Kurzbeschreibung. Da aber alle anderen Wikingerschiffs-Modellbausätze entweder für meine Zwecke zu teuer sind oder erhebliche historische Fehler aufwiesen, griff ich, nach einem kurzen Blick in den Karton, zum Revell-Bausatz. Dieser Blick zeigte mir nämlich, dass das Modell weitaus vorbildgetreuer ist, als die Verpackung befürchten ließ. Für die 13 Euronen, die ich hinblättern musste, ein halbwegs faires Preis-Leistungsverhältnis. (Anderswo kostet der Bausatz 15 Euro, Preise vergleichen lohnt sich also bei längerer Anfahrt nicht unbedingt.)
Modellbausatz Wikingerschiff

Zuhause, bei näheren Betrachten des Bausatzes, erlebte ich eine angenehme Überraschung: Da Revell das Modell einfach als "Wikingerschiff" bezeichnet, habe ich kaum zu hoffen gewagt, dass das Modell wirklich vorbildgetreu sein könnte.

Ich sah mir die Bauteile gründlich an - und erkannte: es ist ein Modell des Gokstad-Schiffes! Da ich das originale, 1880 auf dem Gokstadhof bei Oslo in einem Grabhügel gefundene, Schiff im Osloer Museum selbst gesehen habe, und ich den Bausatz mit Abbildungen in Büchern vergleichen kann, schätze ich die Vorbildtreue als "gut" ein. Zur Note "sehr gut" fehlen einige kleine Details, dazu später mehr.

Anhand der bekannten Abmessungen des Gokstadschiffs 23,24 m lang, 5,20 m breit und eine Höhe mittschiffs von 2,02 m - und denen des ziemlich genau 38,7 cm langen Modells stellte ich erst einmal fest, dass das Modell entgegen der Packungsangabe nicht den Maßstab 1: 50, sondern 1 : 60 hat. Dann stellte ich fest, dass auch die Breite und Höhe und die Größe der Schilde und des Ankers exakt maßstabsgetreu sind. Ich wunderte mich - nicht zum letzten Mal - über die Diskrepanz zwischen der Qualität des Modells und der des "Drumherums".

Mit seinen 16 Riemenpaaren ("rúm" oder "sesser") ist das Gokstadschiff ein Karfi oder eine Snjekka - für beide Schiffstypen sind Schiffe mit 16 "sesser" überliefert. Damit galt es bereits als "langskip" (Langschiff, ab 14 "sesser"), aber noch nicht als "storskip" (Großschiff, ab 20 "sesser"). Ein Dreki (Drachen) hatte 30 - 60 Riemenpaare, die größten Drekis müssen an die 70 m lang gewesen sein - was an die Grenzen des technisch Machbaren ging. Deshalb wurden wahrscheinlich nur wenige Drekis auf Kiel gelegt, auch die kleineren Skeiths werden wohl nicht allzu häufig gebaut worden sein. Die Masse der Wikinger-Kriegsschiffe waren Snjekkas (was nicht etwa "Schnecken", sondern "Schlangen" bedeutet haben soll) oder Karfis - die noch kleineren Skutas (erhalten z. B. im deutschen Wort "Schute") dienten als Zubringer- und Landungsboote. Von den bekannten Schiffsfunden ist Skudelev 5 eine Skuta, das Oseberg-Schiff eine Karfi, das Schiff von Haithabu wohl eine Karfi, die Schiffe von Gokstad und Ladby waren entweder große Karfis oder kleine Sjekkas, Skudelev 2 ist eine Snjekka - Skudelev 6 ist ein Fähr- oder Fischerboot, Skudelev 3 ein kleines Handelsschiff, Skudelev 1 eine Knorr - einer jener stabile Handelssegler, mit denen die Fahrten nach Island, Grönland und Vinland unternommen wurden.

Obwohl das Gokstad-Schiff nicht allzu groß war und verglichen mit der reich verzierten "Luxusjacht" von Oseberg schmucklos war (aber selbst für Wikinger-Standards sorgfältig gebaut), war es das Schiff eines Königs, denn für die Bestattung einer weniger wichtigen Persönlichkeit hätte man kein gutes seetüchtiges Kriegsschiff geopfert.

Zurück zum Bausatz: die Darstellung der geklinkerten Planken ist gut, wenn auch etwas vereinfacht. Mich überrascht, dass eine schöne Holzgravur angebracht wurde, jedoch die Klinknägel bzw. Nieten fehlen - es wäre durchaus machbar gewesen, wie andere Details des Bausatzes zeigen.
Die Befestigung der Schilde - wie beim Original 64 Stück - ist nicht vorbildgetreu, aber eine vorbildgetreue Anbringung wäre in diesem Maßstab wohl wenig haltbar ausgefallen. Wenn die Schilde montiert sind, sind die nicht vorbildgetreuen Befestigungspunkte aber nicht mehr zu sehen.
Die Schilde sind vorbildgetreu. Das gilt auch für die Decksplanken, den Mastfisch und andere Details binnenbords. Erfreulich: auch die Breitassen, Spieren, mit deren Hilfe die Wikingerschiffe trotz Rahtakelung hoch an den Wind gehen konnten (für Landratten: sie konnten bei Wind schräg von vorne segeln), sind vorhanden. Sogar bei einigen originalgroßen Wikingerschiffs-Nachbauten fehlen sie.

Beim originalen Gokstad-Schiff sind die Stevenfiguren nicht mehr erhalten. Als Kriegsschiff und wahrscheinlich Königsschiff wird es sicherlich eine Tierfigur als Bugzier getragen haben. Wie sie ausgesehen haben könnte ist reine Spekulation.
Für das Modell ist ein stilisierter Schlangenkopf als Bugzier und ein zur Spirale aufgewickelter Schlangenschwanz als Heckzier vorgesehen. Sie passen stilistisch und größenmäßig besser zum Schiff, als es die Karton-Illustration vermuten ließe. (Gerade bei den Bug- und Heckverzierungen sind manche Wikinger-Schiffsmodelle völlig unhistorisch.)
Einige Kleinteile, z. B. die Riemen, haben Grate, die erst mühsam weggeschliffen werden müssen, aber das ist man nicht nur von Revell leider gewöhnt ...

Zum Bausatz gehört außerdem ein tiefgezogenes Segel aus dünnem Plastik, ein Bogen mit Decals (Schiebeaufklebern) für die Schilde und das Segel, sowie Takelgarn und eine Schnur für die Ankertrosse.

Die Decals hinterlassen bei mir gemischte Gefühle. Diejenigen für die Schilde sind zwar meines Erachtens für die dargestellte Epoche etwas zu "bunt" geraten - es gab nur verhältnismäßig wenige gute Farbstoffe - aber immerhin plausibel. Sogar die bei einigen Schild-Decals verwendeten Runen passen von der Form her in die Zeit um 900 (jüngeres Futhark).
Im scharfen Kontrast dazu: Das Segel-Decal entspricht leider ziemlich genau dem auf dem Karton und ist einfach grausam. (Noch mal zum Mitschreiben: die Helme der Wikinger hatten keine Hörner!)

Die Bauanleitung enthält auf Seite 1 allgemeine Informationen zum Vorbild (auf Deutsch und Englisch), die wenig vorbildlich sind. Offensichtlich wussten die Autoren nicht einmal, dass das Modell im Gokstad-Schiff ein reales Vorbild hat.
Die restliche Bauanleitung ist gut - mit genauen und instruktiven Zeichnungen zu jedem Schritt. (IKEA könnte sich da noch eine Scheibe abschneiden.) Auch die Farbangaben erscheinen brauchbar.
Geteilter Meinung kann man zu der vorgeschlagenen Takelage sein. Einerseits berücksichtigt sie die Breitassen - wie beim Vorbild ist bei Kursen mit achterlichem Wind nur ein Breitass gesetzt - andererseits erstaunt es mich, dass gar keine Wanten vorgesehen sind. Ich vermute, dass da eine etwas exzentrische Rekonstruktion verwendet wurde, die davon ausging, dass das Segel beim Segeln am Wind längsschiffs gestanden haben muss, und dass Wanten (Taue, die dem Mast seitlichen Halt verleihen) das nicht zugelassen hätten. Allerdings wäre der Mast, der umlegbar war und deshalb nur mit einem Keil gesichert im Mastschuh (oder Mastfisch) stand, dabei wahrscheinlich außenbords gegangen - wäre er fest verankert gewesen, wäre er bei dieser Kraftverteilung gebrochen. Ich halte mich lieber an einen "konventionelleren" und experimentell erprobten Takelplan.

Ich habe den Eindruck, dass die Gussformen schon älter sind oder vielleicht sogar aus den Beständen eines anderen Herstellers stammen. Bei Revell kannte man nicht einmal mehr den richtigen Maßstab des Modells ...

Schade finde ich auch, dass es außer den Riemen und den Breitassen keine weiteren "losen" Zubehörteile gibt - etwa Schiffskisten (auf denen die Ruderer saßen), Modelle der hervorragend erhaltenen Beiboote, oder ein Zelt, wie es auf Deck aufstellt werden konnte. Damit ließen sich auch verschiedene Versionen des Schiffes - unter Segeln, unter Riemen oder im Hafen - darstellen. Und irgendwie habe ich die Idee, dass Wikinger-Figuren im passenden Maßstab eine gute Ergänzung wären.

Mehr zu meinem Wikingerschiff, wenn das Modell fertiggestellt ist. Womit ich es nicht eilig habe, denn als "Malvorlage" taugt es schon im halbfertigen Zustand.

(Übrigen: einige meiner Zeichnungen und Gemälde habe ich in meinen Ipernity-Account gestellt.)
njörd (Gast) - 28. Jan, 12:47

70 m lange Drachenschiffe

Du schrobst: "Die größten Drekis müssen an die 70 m lang gewesen sein - was an die Grenzen des technisch Machbaren ging."

Auch Dir dürfe bekanntt sein, dass die Kiele der Wikingerschiffe aus einem einzigen Baumstamm gefertigt waren. Aus gutem Grund, denn zusammengesetzte Kiele, wie beim Karwel-Bau üblich, geben für reine Klinkerbauten zuwenig Stabilität.

Für ein 70m - Schiff hätte ein Baum von über 50 m nutzbarer Stammklänge gefällt werden müssen, und zwar Hartholz. Fichte oder Tanne, die so lang werden können, gingen nicht, allenfalls noch Buche.

Außerdem ist das in Haithabu geborgene Schiff ein Knorr

MMarheinecke - 28. Jan, 15:22

Danke für den Hinweis

Ich meinte das teilweise geborgene, nur zu etwa 10 % erhaltene Wrack Haithabu 1. Die bisher nicht geborgene, relativ gut erhaltene Knorr ist das Wrack Haithabu 3.

Der Dreki König Knud "des Großen" soll 60 "sesser" gehabt haben. Daraus ergibt sich, wenn man die üblichen Proportionen zugrunde legt, eine Schiffslänge von mindestens 70 m. Angaben über Großschiffe mit 70 "sesser" und mehr nehme ich nicht ernst. Ich halte es schon für möglich, dass ein König, dem ein Hang zum Größenwahn nicht abzusprechen ist, einen praktisch nicht zu gebrauchenden, aber imposant anzusehenden, Schiffsgiganten in Auftrag gab. Wahrscheinlich sind die Angaben übertrieben, aber für "theoretisch machbar" halte ein so langes geklinkertes Schiff mit "gebautem" Kiel schon. (Dass es nicht sonderlich stabil wäre und sich auf offener See wie eine Schwimmnudel biegen würde, steht auf einem anderen Blatt.)

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