Die Tücken der virtuellen Realität

Zur Einstimmung ein Screenshoot aus einem "Killerspiel" aus dem Jahr 1984, das bis 2002 als "jugendgefährdendes Medium" indiziert war (seitdem ohne Einschränkungen):
RiverRaid-Gif-Animation
RiverRaid war das erste Videospiel, das von der BPjS (heute BPjM) indiziert wurde.
In der Begründung des Indizierungsbeschlusses vom 19. Dezember 1984 hieß es unter anderem: "Jugendliche sollen sich in die Rolle eines kompromisslosen Kämpfers und Vernichters hineindenken (...). Hier findet im Kindesalter eine paramilitärische Ausbildung statt (...). Bei älteren Jugendlichen führt das Bespielen (...) zu physischer Verkrampfung, Ärger, Aggressivität, Fahrigkeit im Denken (...) und Kopfschmerzen." (BPjS-Aktuell Heft 2/84)
Eine kostenlose PC-Version des ehemaligen "Killerspiels", zum Downloaden: RetroRiver

Für ein Verbot sogenannter Killerspiele haben sich erwartungsgemäß die deutschen Innenminister bei ihrer turnusmäßigen Konferenz ausgesprochen. Aus meiner Sicht ein klassisches Beispiel für "Unpolitik", also eine bloße Inszenierung, die politisches Handeln vortäuschen soll - die Innenminister handeln ähnlich, wie der Betrunkene in dem alten Witz, der das verlorenen Schlüsselbund bei der Straßenlaterne such, weil es da am hellsten ist. Der "verlorene Schlüssel" - das sind die seltenen, aber tragischen Amokläufe vor allem jugendlicher Täter und die (angeblich) alarmierend steigende Gewaltkriminalität von Jugendlichen. Der "Betrunkene" - das sind Politiker, die behaupten, sie könnten wirksam etwas unternehmen, um die Schlüssel zu finden - während andere dafür sind, so ehrlich zu sein, die Suche als zwecklos aufzugeben (und bei Tageslicht noch einmal aufzunehmen). Und der Lichtkreis der Straßenlaterne auf dem Pflaster - das ist der "Handlungsspielraum" der Innenpolitiker, die paar Quadratmeter, in denen sie wirklich so etwas wie "Macht" haben. "Killerspiele" können per Gesetz verboten werden - also haben "Killerspiele" bis auf weiteres (nämlich weitere Amokläufe nach erfolgtem Verbot) die Hauptursache dafür zu sein, dass Jugendlich gewalttätig werden. (Obwohl es zahlreiche einleuchtende Gründe für dieses Verhalten gibt - die aber nicht im Lichtkreis der Politik liegen.)

Zur gleichen Zeit trafen sich Psychologen und Mediensoziologen auf der Halbinsel Hermannswerder, um über den Zusammenhang von Mediengewalt und aggressivem Verhalten zu diskutieren. In einer Abschlusserklärung postulierten die Wissenschaftler genau das, was ihre Auftraggeber hören wollen die These, dass interaktive Mediengewalt stärker wirke als passive. (Was selbst für einen lernpsychologischen Beinahe-Laien wie eine Trivialität ist: durch "Mitmachen" im Spiel, lernt man besser als durch "nur Zuhören". Für diese Erkenntnis braucht man keine Psychologen-Konferenz.) Zudem würden Killerspiele wie Ego-Shooter aggressiv machen und Hilfsbereitschaft und Einfühlungsvermögen unterdrücken, sagten die Teilnehmer am Ende des international besetzten Symposiums.
Hier die Meldung der "Märkischen Allgemeinen" mit eingebettetem Video des Interviews mit der Tagungs-Organisatorin, Barbara Krahé, Psychologin an der Universität Potsdam.
Killerspieler verlernen Mitgefühl -
MAZvideo trifft eine Mediengewalt-Expertin
.
Frau Krahé bringt ein interessantes Beispiel, um ihre Hypothese zu stützen: Man hat Testpersonen in einer "virtuellen Realität" an einen schroffen Abhang geführt. Obwohl die Testpersonen jederzeit genau wussten, dass das, was sie sehen, nur eine Computer-Simulation ist, waren sie unfähig, den Schritt in den simulierten Abhang zu tun. Sie behauptete daraufhin, der Versuch zeige, wie leicht Realität und Scheinrealität verwechselt werden könnten, also auch im Computerspiel gelernte Verhaltensweisen in die Wirklichkeit übertragen werden können.

Solche Versuche gibt es schon lange, ich erinnere mich daran, dass Hoimar von Dithfurth einen entsprechenden Versuch Anfang der 80er Jahre im Fernsehen zeigte. Obwohl die Simulation - damals noch ohne Computer, nur mit den Mitteln der Filmprojektion - mehr als kläglich und die "Illusion" völlig durchschaubar war, schreckten die Versuchspersonen vor dem "Abgrund" zurück. Dann wurde eine Filmsequenz gezeigt, in der zuerst Kinder zu sehen waren, wie sie vor einer Bluescreen-Wand über auf dem Boden liegende Bretter balancierten - und dann die selben Kinder, in der selben Szene, nur aber scheinbar über einen - einkopierten - gähnende Abgrund herumklettern. Alles Wissen, dass es ein Trick ist, nützt nichts: Im ersten Moment erschrickt man gewaltig.

Das zeigt, dass das "Virtueller-Abgrund"-Beispiel ausgesprochen schlecht gewählt ist (oder geschickt, je nachdem). Denn das wir vor einem Abgrund zurückschrecken und nicht einfach weitergehen, das müssen wir nicht lernen. Lernen, und zwar gegen starken inneren Widerstand, müssen wir, dass wir in Ausnahmesituationen doch in die Tiefe springen können: beim Fallschirmspringen, Bungee-Jumping, Sprung vom Sprungturm im Schwimmbad.

Das Beispiel der Frau Krahé wäre aussagekräftig, wenn die Versuchspersonen in der - als solche durchschaubaren - virtuellen Realität gelernt hätten, in den Abgrund zu "springen" - und dann, in der tatsächlichen Realität, das auch ohne zu zögern täten. Alle Erfahrungen mit Fallschirmspringern, Bungee-Jumpern und Turmspringern sprechen dagegen, dass so ein Experiment "erfolgreich" wäre.

Es stimmt zwar, dass Ego-Shooter ähnliche Simulatoren zur Ausbildung von US-Marines benutzt werden. Mit ihnen wird tatsächlich eine gefährliche Fähigkeit trainiert: zu schießen und zu treffen, ohne erst zu überlegen. (Ähnlich den schon seit langem bekannten mechanisch arbeitenden "Schießtheatern".) Allerdings - die Behauptung, diese Simulatoren dienten dazu, die "Tötungshemmung abzutrainieren", stimmt nicht, denn in den Szenarien sind "Ziele" eingebaut, auf die auf keinen Fall geschossen werden darf (z. B. auf die eigenen Kameraden). - Spektakuläre Fälle von "friendly fire" sollen ein Grund gewesen sein, weshalb die Soldaten verstärkt im Simulator gedrillt werden.
Damit sind wir bei einen wichtigen Punkt - Drill. Der klassische "Millitärschliff" beruht darauf, den Willen des Rekruten erst zu zerstören und dann, im Sinne der militärischen Disziplin wieder aufzubauen. Ein vergleichbarer Prozess läuft selbst bei den realistischten "Killerspielen" nicht ab. Davon abgesehen, dass man am Egoshooter nicht lernen kann, eine echte Waffe zu bedienen, die einiges wiegt, auf eine bestimmte Weise gehalten werden muss und einen (gerade bei Pistolen für Anfänger unerwartet starken) Rückstoß hat.
Ich will damit nicht sagen, dass Egoshooter ein prolemloser Zeitvertreib für Jung und Alt wären. Aber man sollte die "Kirche im Dorf" bzw. die "Schießbude auf der Dorfkirmes" lassen. Wobei die Schießbude in Sachen "Schießen" sogar noch "realistischer" ist als der beste Egoshooter. (Wann werden die Dinger endlich verboten?!?)

(Mal abgesehen davon: was ist ein "gewaltätiges Videospiel"? Eines, bei dem der Joystick wild um sich schlägt?)

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