Die Rätsel der "Grönland-Wikinger"

Ich gebe zu, ich bin voreingenommen gegen jemandem, der schreibt: In ihrer eigenen Sprache, dem Altnordischen, bedeutet das Wort vikingär nichts anderes als "Räuber"

(Auf "Wiking gehen" hieß soviel wie sich auf Handelsreise / Raubzug / Kriegsfahrt / Forschungsexpedition begeben. (Die Übergänge waren fließend.) Oder, um es mit Hägar dem Schrecklichen zu sagen: "Wikinger heißt Geschäftsreisender". Nur in kirchlichen Chroniken bedeutete "viking" nichts als "Räuber", ansonsten war der Begriff ambivalent besetzt.)

Wäre das aber der einzige Kritikpunkt, könnte ich Jared Diamond Buch "Kollaps" nur empfehlen. Das Thema des Geografen und Evolutionsbiologen ist nichts weniger als die Suche nach den Ursachen des Untergangs von Gesellschaften. Er stellt die Frage, warum sich angesichts schwieriger Umweltbedingungen manche Gesellschaften als stabil erwiesen - und andere buchstäblich ausstarben. Eine Frage, die Diamond anhand von fünf Parametern (Umweltschäden, Klimaveränderungen, feindliche Nachbarn, Unterstützung durch Nachbarn und Planung und Gestaltung der Zukunft) untersucht. Angenehm ist, dass Diamond kein weiteres "Weltuntergangsbuch" schrieb und auf die gängigen apokalyptisch-metaphysischen Abgesänge entweder auf "unsere Zivilisation" oder gleich die Menschheit als Ganzes verzichtet. Diamond ist Warner, als solcher durchaus Optimist, kein Apokalyptiker.
Das Buch ist schon seit einiger Zeit auf dem Markt. Deshalb wurde seine Schwäche, nämlich die, dass die Beispiele bei genauerer historischer Betrachtung manchmal nicht so recht zu Diamonds Prämissen stammen, schon einige Male thematisiert. Besonders oft geriet das schon lange vor dem Buch zum Öko-Mythos gewordene Beispiel der Osterinsel, deren Einwohner mit dem Abholzen der Palmenwälder angeblich ihren Untergang besiegelten, in den Fokus der Kritik.

Sehr viel breiteren Raum nehmen in Diamonds Buch die normannischen Siedler in Grönland ein. Ende des 10. Jahrhunderts gründete Erich der Rote mit einer Handvoll Siedler aus Island, Norwegen und anderen nordeuropäischen Ländern im Südosten Grönlands eine kleine Kolonie. Die Grönland-Normannen betrieben erfolgreich Viehzucht und etwas Ackerbau, sie exportierten Pelze und Walross-Elfenbein, sie gründeten sogar eine Tochterkolonie in Nordamerika. Das Gemeinwesen der normannischen Grönlander war eine blühende kleine Republik. Ihre Lebensweise entsprachen ganz und gar der in ihrer skandinavischen Heimat. Insgesamt bestand das von Erich dem Roten gegründete Gemeinwesen fast 500 Jahre - und verschwand dann anscheinend plötzlich. 1261 musste Grönland seine Selbstständigkeit aufgeben - vermutlich aus wirtschaftlichen Gründen. 1350 berichtete der isländische Kirchenmann Ivar Bardarsson, dass die Vesterbygd, die "westliche Siedlung" (die in Wirklichkeit nördlich der Hauptsiedlung lag) aufgegeben sei.
Um 1408 wurde die letzte christliche Hochzeit in Grönland beurkundet. Spätestens um 1550 erlosch die letzte normannische Siedlung in Grönland.
Der Hauptgrund des Niedergangs ist offensichtlich das rauer werdende Klima. Spätestens ab dem 13. Jahrhundert verschlechterten sich die klimatischen Bedingungen in Grönland. Hatte dort um 1000 ein milderes Klima geherrscht als heute, lagen die Temperaturen um das 1400 weit tiefer, auch wenn der Tiefpunkt der "kleinen Eiszeit" erst im 17. Jahrhundert erreicht wurde.

Für Diamond ist klar: die Normannen verstanden es nicht, sich den geänderten Lebensverhältnissen anzupassen und verhungerten dort, wo die Eskimos / Inuit mit ihre an die Umwert angepassten Kultur gut überlebten.
Diamond zeigt, dass der Versuch der Normannen, in Grönland nach von ihren in ihrer Heimat üblichen Verhältnissen zu leben, die Umwelt ihrer Siedlungen veränderte (Bodenerosion) und das diese Veränderungen ihnen als das Klima im 14. und 15. Jahrhundert kälter wurde, schwer zu schaffen machte. So weit, so unstrittig.

Allerdings steht Diamonds zentrale These, die Nordländer hätten sich nicht den geänderten Verhältnissen angepasst, auf wackligen Beinen. Er behauptet z. B., dass sie sich geweigert hätten, sich vorwiegend aus dem Meer zu ernähren (wie die Eskimos) und auf "europäischen" Ernährungsgewohnheiten beharrt hätten. Kurz gesagt: die Wikingernachkommen hielten aus irgend einem Grunde nichts vom Fischessen. Wenn in einer normannischen Siedlung 70% der gefundenen Knochen Seehundknochen waren, so entspricht das ziemlich genau den Verhältnissen bei den Grönländern eskimoischer Abkunft. Diamond deutet den Fund aber so, dass die Normannen lieber Robbenfleisch als Fisch gegessen hätten. Für die Annahme einer so starken kulturelle Abneigung gegen Fisch, dass sogar das Schlachten der Hunde als bessere Alternative erschien, spricht gar nichts. Die Färinger, ebenfalls isoliert lebenden Wikingernachfahren,
lebten bis ins 20. Jahrhundert hinnein fast nur von Fisch und Meeressäugern.

Aus archäologischen Funden ergibt sich, dass die normannischen Grönländer die Bauweise ihrer Häuser dem veränderten Klima anpassten. Sie konstruierten außerdem kälteisolierte Ställe, in denen sogar Rinder und Schweine überwintern konnten. Wichtigste Hausstiere waren aber genügsame Schafe, deren besonders dichte Wolle sogar exportiert wurde. Es spricht vieles dafür, dass jene Grönlandsiedler, die das harte Klima nicht länger ertragen wollten, schlicht ausgewandert sind - denn es gab nach wie vor eine regelmäßige Schiffsverbindung.
Die 3500 Grönländer, die nach der Aufgabe von Vesterbygd ausharrten, ging es wirtschaftlich offensichtlich gut. In den Gräbern von Herjolfsnes wurden aufwändige Kleidungsstücke nach der Mode des späten 15. Jahrhunderts gefunden. Wer ständig den Hungertod vor Augen hat - und das müsste, wenn Diamond recht hat, zu dieser Zeit der Fall gewesen sein - hat normalerweise andere Sorgen als modische Kleider. Es im mittelalterlichen Grönland immerhin 36 Kirchen, viele davon mit teuren Glasfenstern. Der portugiesische Seefahrer João Vaz Corte-Real erreichte im Jahr 1473 Grönland. Nach dem leider nur fragmentarisch erhaltenen Bericht Didrik Pinings existierte dort noch eine kleine europäische Siedlung.
Dennoch - als 1530 vom Kurs abgekommene norwegische Seefahrer Grönland besuchten, fanden sie nur einen toten Normannen. Die Kolonie gab es nicht mehr.
Gegen Diamond und die "Klimatheorie" spricht, dass ausgerechnet die kritische Zeit zwischen etwa 1480 und etwa 1530 eine eher mildere Periode war.

Der klimabedingt dickere Eisgürtel und die kürzere Navigationsperiode behinderten wahrscheinlich die regelmäßige Schiffsverbindung nach Europa. Das Leben in Grönland wurde härter. Während der großen Pest um 1350 könnte die Verbindung sogar völlig abgerissen sein. Allerdings führte das nicht zum Aussterben der Kolonie.
Die Neigung zur Flucht in mildere Gegenden wird allerdings gewachsen sein. Ich nehme an, dass viele Grönländer einfach nach Europa zurückwanderten. Die Möglichkeit, dass einige Grönländer nach Nordamerika ausgewandert seien, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Allerdings müßten diese Siedler vor etwa 1550 ausgewandert sein, weil spätensten nach dieser Zeit die Grönländer keine eigene seetüchtigen Schiffe mehr hatten.
Auch wurde diskutiert, dass die Pest auf Grönland selbst gewütet hätte. Dafür gibt es aber keine positiven Hinweise.

Dagegen, dass sich die normannischen Grönländer mit den Eskimos / Inuit / Skraelingen vermischt hätten, sprechen anatomische Untersuchungen an den auf den Friedhöfen der Normannen gefundenen Skeletten. Dennoch ist es möglich, dass sich einzelne Europäer den Einheimischen angeschlossen und deren Lebensstil angenommen haben. Eine schwer zu verifizierende Hypothese, denn schon mit den Walfangflotten des 17. Jahrhunderts setzte in Südwestgrönland eine "Rassenmischung" ein.
Dass die europäischen Grönländer durch die Inuit ausgrottet wurden, ist auch eine schwer verifizierbare Hypothese. Ein regelrechter Krieg ist schwer vorstellbar. Dass es Plünderungen gab, zeigen Funde von europäischem Hausrat und zerschlagene Glockenteilen in Eskimogräbern. Fragt sich, ob vor oder nach dem Ableben der Normanen.
Eine Außenseitertheorie ist die, dass die letzten normannischen Grönlander von portugisischen Sklavenjägern in die Zwangsarbeit verschleppt wurden. Auch diese Hypothese dürfte nur schwer zu erhärten sein.

Und wieso verschwanden die normannischen Grönländer dann?
Man darf bei all dem nie vergessen, wie klein die euroäische Kolonie in Grönland war - nach der Aufgabe von Vesterbygd waren es etwa 3500 Menschen. So wenige Menschen können auch aus unspektakulären Gründen "verschwinden". Vermutlich trugen alle oben genannten Gründe mehr oder weniger zum "Verschwinden" der Grönlandsiedlungen bei.

Nehmen wir aber einfach an, die Grönland-Normannen hätten alle "ökologisch vernünftig" in Sinne Diamonds gehandelt und sich dem Land so gut wie möglich angepaßt, also die Lebensweise der Eskimos übernommen. Bei so wenigen Menschen - und den nachweislich zahlreich in das Siedlungsgebiet der Normannen einwandernden Eskimos - hätte das kurz über lang dazu geführt, dass die Normannen kulturelll assimiliert worden wären. Allenfalls körperlich wären sie als Nachkommen von Europäern auszumachen gewesen. Sie wären aus historischer Sicht ebenfalls "verschwunden".

(2. Teil: Leif Eriksons Vinlandfahrt - ein einmaliges Unternehmen?)

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