Überlegung: warum gibt es kein "Frankfurt 21" und kein "Hamburg 21"?

Auf dem Blog "Spiegelfechter" legt Jens Berger ausführlich dar, dass der bisherige Kopfbahnhof gar kein "Nadelöhr" ist, dass der geplante unterirdische Durchgangsbahnhof dagegen schon bei kleinen Betriebsstörungen zum Nadelöhr werden kann - und woran es wahrscheinlich liegt, dass das verkehrstechnisch unsinnige Projekt "Stuttgart 21" doch gebaut werden soll:
Stuttgart 21 – der Bahnhof, den niemand will und niemand braucht.

Der Stuttgarter Hauptbahnhof steht in der Rangliste der meistfrequentierten Fernbahnhöfe in Deutschland mit 240000 Fahrgästen pro Tag erst an achter Stelle. Der meistfrequentierte deutsche Bahnhof ist der Hamburger Hauptbahnhof mit 450000 Fahrgästen pro Tag.
Auch als Fernverkehrs-Knotenpunkt, etwa auf der von Kanzlerin Merkel erwähnten "Verbindung Paris-Budapest", nimmt Stuttgart Hbf mit 164 Fernzügen am Tag keinen Spitzenplatz ein.
Der wichtigste Knotenpunkt für Fernzüge ist in Deutschland eindeutig der Hauptbahnhof von Frankfurt (Main) mit 342 Zügen im Fernverkehr pro Tag.

Frankfurt Hbf ist, wie Stuttgart Hbf, ein Kopfbahnhof. Züge, die nicht in Frankfurt enden, müssen "rückwärts" den Bahnhof verlassen, bis sie ihre Fahrt fortsetzen können. Das "Kopf machen" ist ein zeitraubender Vorgang, der in einen Durchgangsbahnhof entfällt.

In der Tat gab es auch in Frankfurt Pläne für den Umbau in einen Durchgangsbahnhof, das Projekt Frankfurt 21. Allerdings sollte bei Frankfurt 21 kein Bahnhof abgerissen und neu gebaut werden, sondern der Hauptbahnhof mit dem Ostbahnhof durch unterirdische Gleise verbunden werden.
Dieses Projekt wurde 2002 endgültig fallen gelassen. Warum?

Das Hauptproblem in Frankfurt war die Finanzierung. Ursprünglich sollte das 1998 mit 2,9 Milliarden D-Mark kalkulierte Projekt durch den Verkauf ungenutzter Bahngrundstücke finanziert werden, was allerdings, da die zum Verkauf vorgesehenen Grundstücke teilweise dem Bundeseisenbahnvermögen gehörten, nicht realistisch war. Die Deutsche Bahn fürchtete wegen der geringeren Immobilienerlöse einen höherer Eigenanteil tragen zu müssen.

Anderseits wäre der Zeitgewinn weitaus geringer gewesen, als ursprünglich angenommen - er hätte höchsten zehn Minuten betragen. Die meisten Personenzüge - einschließlich der ICEs und ICs - sind heutzutage Wendezüge (oder Triebzüge), weshalb das "Kopf machen" längst nicht mehr so umständlich und zeitaufwendig ist wie früher. Betriebswirtschaftlich machte "Frankfurt 21" also keinen Sinn.
Da auch die politische Unterstützung weit geringer war als in Stuttgart, war das Projekt "Frankfurt 21" damit praktisch gestorben:
Ob ein Projekt verwirklicht wird oder nicht, hängt immer auch von den handelnden Personen ab - und von der Frage, wer wem auf bestimmten Posten folgt.
Bahntunnelprojekt: Immer einen Schritt schneller Artikel der FAZ aus dem Jahr 2006, in dem dargelegt wird, warum das Projekt "Frankfurt 21" scheiterte, aber für "Stuttgart 21" "noch Hoffnung bestand". Die FAZ lobte damals noch:
Die Cleverles aus Stuttgart waren außerdem in dem ganzen Prozedere immer einen Schritt schneller - auch das gehört mitunter zum Erfolg. Als man sich am Main noch alle vier Wochen zu einer "Machbarkeitskommission" traf, waren am Neckar schon viele Hürden genommen.
Das Projekt "München 21" wurde ebenfalls aufgegeben. Das vergleichsweise bescheidene Projekt City-Tunnel Leipzig wird hingegen verwirklicht. Dieser Projekt kann allerdings als warnendes Beispiel für "Stuttgart 21" gelten. Das Problem sind auch hier hohe (und ständig steigende) Baukosten. Der City-Tunnel ist für den Fernverkehr nur von geringem Nutzen, während die langen Bauarbeiten im Stadtzentrum zu Verkehrsbehinderungen und Umsatzeinbußen führen.

Das es nie ein Bahnhofsprojekt "Hamburg 21" gegeben hat, verwundert auf den ersten Blick. Zwar ist der Hamburger Hauptbahnhof kein Kopfbahnhof, sondern ein Durchgangsbahnhof - er hat allerdings ebenfalls "historische Altlasten". Erst einmal ist er ein Keilbahnhof: Die Strecken Richtung Süden (Richtung Hannover und Bremen) und in Richtung Osten (Richtung Berlin und Lübeck) zweigen noch innerhalb der Bahnsteige auseinander, auf der anderen Seite werden sie in der Bahn Richtung Hamburg-Altona (Kiel, Flensburg) zusammengefasst. Der Bahnbetrieb ist damit komplizierter als auf einem "reinrassigen" Durchgangsbahnhof.

Außerdem ist Hamburg Hbf eng: Von seinen 14 Gleisen sind zwei reine Durchfahrtsgleise für den Güterverkehr, vier Gleise werden ausschließlich für den S-Bahn-Verkehr genutzt, bleiben also angesichts des starken Verkehrsaufkommens magere 8 Gleise für den Fernverkehr - von denen wegen der "Keilanlage" die Hauptlast des Fernverkehrs, der der stark frequentierten Nord-Süd-Verbindungen, auf nur vier Gleisen ruht.
Aus städtebaulichen Gründen ist es nicht möglich, einfach weitere Gleise an der Seite anzubauen - mit den beiden in den 1970er Jahren gebauten unterirdischen S-Bahn-Gleisen ist diese Möglichkeit bereits ausgeschöpft.

Ein - hypothetisches - "Projekt Hamburg 21" könnte im Neubau eines "breiteren" Bahnhofs südlich vom heutigen Standort und eines Gleisdreiecks noch weiter südlich bestehen. Die nötige Flächen für einen oberirdischen neuen Hauptbahnhof wären sogar "freiräumbar" gewesen (Ostteil der "Hafencity" und Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs).

Der Grund, weshalb es nie ein "Hamburg 21" gegeben hat, liegt darin, dass mit einen neuen Bahnhof praktisch keine Fahrzeitverkürzungen verbunden gewesen wären, die die Kosten eines Neubaus rechtfertigen könnten.
Zwar lag der Fall beim neuen Berliner Hauptbahnhof ähnlich, nur gab es dort starken politischen Druck, das Projekt entgegen betriebswirtschaftlicher Bedenken durchzuziehen.

Mein Fazit: wirtschaftlich unsinniger "Bahnsinn" wie "Stuttgart 21" hat nur dort eine Chance, wo er mit massivem politischen Druck "durchgepeitscht" wird.
A. Sydow (Gast) - 9. Okt, 14:46

Kein Vergleich

Ich frage mich ja schon lange, was solche Argumentationen, in denen Äpfel mit Birnen verglichen werden, bringen sollen. Es geht um Stuttgart. Nicht um Hamburg, München, Frankfurt, Berlin oder Wien.
Diese Städte haben alle völlig unterschiedliche Verkehrskonzepte, in denen die jeweiligen Hauptbahnhöfe unterschiedliche Funktionen erfüllen.
Was für die eine Stadt sinnvoll ist, kann für die andere der größte Unsinn sein.
Zumal die geplanten / bereits umgesetzten Großprojekte sich ebensowenig miteinander vergleichen lassen.

Zitat: "Zwar lag der Fall beim neuen Berliner Hauptbahnhof ähnlich, nur gab es dort starken politischen Druck, das Projekt entgegen betriebswirtschaftlicher Bedenken durchzuziehen."


Haben Sie dafür Belege?

Betriebswirtschaftliche Bedenken gibt es wohl bei jedem Großprojekt (ist ja auch richtig, den kritischen Blick nicht zu verlieren), nur, ob diese auch immer gerechtfertigt sind...?
In Berlin wird auch viel Unsinn erzählt und mit haltlosen Behauptungen emotionalisiert. Ob es in Stuttgart ähnlich ist, weiß ich nicht: für mich als eigentlich neutralen Betrachter überwiegen hier die Argumente gegen den Bau. Schon allein, weil er gegen den Willen eines großen Teils der Bevölkerung durchgezogen wird, und sich in den 15 Jahren, in denen Zeit gewesen wäre Einspruch zu erheben, eine Menge geändert hat.


Aber ein kleines bisschen Skepsis bleibt, weil ich nicht weiß wie verlässlich die jeweiligen Gutachten sind, und weil ich wie gesagt die Situation in Berlin kenne, wie da unbegründet Stimmung gemacht wird. Lustigerweise jetzt nach Fertigstellung mehr als vorher.
Weil ein geringer Teil der Berliner jetzt 6-12 Minuten länger zum nächsten Fernbahnhof braucht, für die meisten dürfte aber die Situation mit den 5 neuen Fernbahnhöfen gegenüber vormals nur "Ost- und Westhauptbahnhof" erheblich komfortabler sein.

Bei den meisten Kritikern lassen sich ohnehin ganz andere versteckte Motivationen ausmachen. Aber das führte hier zu weit.

Zusammengefasst: Berlin ist nicht Stuttgart. :-)

MMarheinecke - 10. Okt, 09:32

Die (Entscheidungs-)Strukturen sind meiner Ansicht nach bei den verschieden Bahnprojekten sehr wohl vergleichbar.
Der Unterschied zwischen der Situation Berlin und der in Stuttgart liegt darin, dass es in Berlin tatsächlich "Handlungsbedarf" gab - also das vorhandene innerstädtische Bahnnetz nicht den Anforderungen eines schnellen Personenverkehrs genügte.
In Stuttgart gibt es diesen Bedarf nicht - die ICE-Neubaustrecke würde auch ohne unterirdischen Bahnhof funktionieren.
Die Gemeinsamkeit: gemessen am Bedarf wurde in beiden Fällen einige Nummern zu groß geplant - und in beiden Fällen ist das Bahnhofskonzept mit Hoffnung verknüpft, durch den Verkauf innerstädtischer Grundstücke einen großen Teil der Kosten wieder hineinzubekommen - in Stuttgart durch Bebauung der jetzigen Bahnhofsfläche, in Berlin durch "Aufwertung" der bisher wenig attraktiven Grundstücke des "Lehrter Stadtquartiers".
In Berlin hätte sich als pragmatische Lösung meiner Ansicht nach der Standort Bahnhof Friedrichstraße angeboten: der liegt im Schnittpunkt zwischen Stadtbahn und neuer Nord-Süd-Bahn, und ist der wichtigste Knotenpunkt für U- und S-Bahnen. Aber: es wäre an diesem Standort nicht möglich gewesen, ein spektakuläres Bahnhofsgebäude als "Leuchtturmprojekt" zu errichten, und, wichtiger, die Grundstücke im "Lehrter Stadtquartier" wären nicht als "zentrale Innenstadtlage" verkaufbar gewesen. (Wobei ich mich wundere, wofür in Berlin noch so viel Büroraum gebaut werden soll - die Leerstände sind unübersehbar.)
Was hier zu weit führen würde, ist die Untersuchung von Filz und Korruption.
Jari (Gast) - 22. Okt, 16:13

Die Maultaschen-Connection

Wer da wen geschmiert hat und wer da mit wem unter einer Decke steckt ist noch nicht endgültig geklärt. Es gibt aber ein großes Interesse von Seiten einiger Konzerne an den "neu entstehenden Flächen" die bebaut werden sollen. M.E. geht es den Köpfen der Befürworter um Kapitalgewinn, Mietwohnungen etc.

Die undemokratische Verzahnung zwischen Staat und Kapital ist ja nix neues, aber gefühlt nimmt m.E. der Wirtschaftslobbyismus und die "kleinen" Verschwörungen (also dunkle Abmachungen und Korruption etc.) zu.

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