"9/11" - und ich ..?

Gestern, am 7. September 2011, bat ZEIT-online um Leserartikel zum Thema:
Wie hat sich Ihre Sicht der Welt durch 9/11 verändert?
Obwohl ich ein Zeit-online-Account habe, werde ich meinen "Senf" zu diesem Thema lieber auf meinem Blog dazugeben.

Denn meine "Sicht auf die Welt" hat sich durch diesen Anschlag wenig verändert. Sie hat sich eher durch das verändert, was seitdem unter dem Vorwand (so sehe ich es) des "Kriegs gegen den Terror" gemacht wurde.

In gewisser Hinsicht bin ich sogar persönlich mit den Terroranschlägen am 11. September 2001 verbunden. Einmal dadurch, dass ausgerechnet jenes Unternehmen, für das ich Mitte der 90er Jahre für einige Zeit in die USA gehen wollten, eine Niederlassung im Südturm des WTC hatte. Daher war einer meiner ersten Gedanken, nachdem ich die Aufnahmen von einstürzenden Südturm im Fernsehen gesehen hatte: "Wenn ich damals mehr 'Glück' in meiner beruflichen Karriere gehabt hätte, hätte ich vielleicht in genau diesem New Yorker Büro gesessen."
Bei Licht besehen ist das zwar eine unwahrscheinliche Möglichkeit, wenn auch wahrscheinlicher als ein Lottogewinn. Immerhin erkundigte ich mich danach, ob ein ehemaliger Kollege, den ich dem Name nach kannte, und von dem ich irgendwie mitgekommen hatte, dass er in New York arbeitete, überlebt hätte. Er hatte - als "typischer" ITler war er Spätaufsteher und beim Anschlag noch nicht am Arbeitsplatz.
Ich habe auch noch eine weitere quasi persönliche Verbindung zu "9/11":
Bei einer Bekannten, die in Hamburg-Harburg, Marienstrasse 54, zweiter Stock, wohnte, hatte ich mal ein paar meiner Bilder, die ich zuvor ausgestellt hatte, für so lange abgestellt, bis ich eine Transportgelegenheit gefunden hätte. Sie erzählte mir von ihrem "komischen Nachbarn". Mit dem stimmte was nicht. Ständig wären dort tagsüber die Vorhänge zugezogen, ihr Nachbar, Ägypter oder so war, würde auch immer so "komische Typen" mitbringen, und er sei auch so "scheiße freundlich", wie ein schlechter Schauspieler. Der hätte bestimmt was Kriminelles am Laufen, bestimmt Drogenhandel. Zu diesem "geheimnisvollen Nachbarn" ein Artikel aus dem Jahr 2001, aus dem "Stern"-Onlinearchiv: Killer im Cockpit.
Dieser alte Artikel ist auch ein schönes Beispiel, wie Erwartungen bzw. Vorurteile die Wahrnehmung beeinflussen. Im "Stern"-Artikel steht, die "komischen Leute" hätten bis in die späte Nacht "laut gebetet und gesungen" und auffällige orientalische Kleidung getragen. Davon hatte meine Bekannte nichts erzählt. Sicher war es abends mal laut nebenan, aber eben nicht wirklich auffällig. Auch nichts von auffälligen orientalischen Gewandungen, jedenfalls keinen, die in einem Stadtteil, in den zahlreiche Türken und nicht wenige Araber leben, auffallen würden. Die "komischen Leute" fielen ihr vor allem durch ihre Zurückgezogenheit und ihr sichtbares Misstrauen auf. Oder, anders gesagt, dadurch, dass sie sich auffällig unauffällig verhielten.

Ein Narrativ, eine "Erzählung" ist ja die von den "fanatischen fundamentalistischen Moslems", die in der Hoffnung auf eine Belohnung im Paradies den "Märtyrertod" gesucht hätten. Dieser moderne Mythos entspricht nicht den bekannten Tatsachen.
Andreas von Bülow wies 2002 in einem Interview für den "Tagesspiegel" darauf hin, dass er nicht stimmen kann:
(...)
Der amerikanische Journalist Seymour M. Hersh hat im "New Yorker" geschrieben, auch einige Leute von CIA und Regierung gingen davon aus, dass manche Spuren wohl gelegt wurden, um zu verwirren. Wer, bitte, Herr von Bülow, soll das alles gemacht haben?

Ich weiß das auch nicht, woher auch? Ich nutze nur meinen gesunden Menschenverstand und stelle fest: Die Terroristen haben sich so auffällig verhalten, wie es nur geht. Und als gläubige Muslime waren sie auch noch in einer Striptease-Bar und haben betrunken der Tänzerin Scheine ins Höschen gesteckt.

Selbst so etwas soll es geben.

Mag ja sein. Ich kann als Einzelkämpfer nichts beweisen, das übersteigt meine Möglichkeiten. Ich habe aber wirklich Schwierigkeiten damit, mir vorzustellen, dass das alles ein einzelner böser Mann in seiner Höhle ausgeheckt hat.
Nein, ein "militanter Islamist", ein fanatischer Anhänger eines politisch verstandenen Islam, muss nicht automatisch ein frommer Moslem sein. Und ein zum Töten und Sterben entschlossener Terrorist kann völlig andere Motive haben, als irgendwelche Jungfrauen im Jenseits.

Ich rechne von Bülow zwar zu den Verschwörungstheoretikern, und halte z. B. seine Vermutungen, die Flugzeuge seien ferngesteuert gewesen und das World Trade Center sei von innen heraus gesprengt worden, für absurd.
Es gibt Fakten, die im Prinzip jeder nachprüfen kann.
Ja, es ist möglich, dass ein Hochhaus durch den Aufprall eines Flugzeuges und den anschließenden Kerosinbrand zum Einsturz gebracht wird. Man unterhalte sich nur einmal darüber mit Feuerwehrleuten oder Bauingenieuren. (Ich habe es getan.)

Dennoch haben von Bülows Angaben, die Angaben eines ehemaligen Mitglieds der parlamentarischen Kontrollkommission der Nachrichtendienste und SPD-Obmanns im Schalck-Golodkowski- Untersuchungsausschuss, ein ganz anderes Kaliber als z. B. die von "Weltverschwörungs-Gerd" Gerhard Wisnewski, der inzwischen passenderweise bei KOPP, Fachverlag für "braune Esoterik" und abenteuerliche Verschwörungstheorien, schreibt.
Normalerweise gilt: Funktionieren schon die technischen Details einer Hypothese nicht, stellen sich politische, soziologische und ökonomische Fragen erst gar nicht.
In diesem Fall sind angebliche Fernsteuerungen, angeblich fehlende Wracks, angebliche Sprengsätze usw. aber eher Nebensächlichkeiten bzw. "Nebenkriegsschauplätze", auf denen sich die Verschwörungstheoretiker austoben, deren Behauptungen dann nahezu nach Belieben demontiert werden können. Ich gehe so weit, zu behaupten, dass Bülow sich, indem er so etwa aufgriff, unglaubwürdig machte. Denn andere Angaben von ihm halte ich nach wie vor für glaubwürdig.
Besonders zu denken geben sollten Bülows Hinweise auf die Feindbildkonstruktion und die Herren Huntington und Brzezinsky.
Beide gehörten zu dem Autorenpool, der, noch zur Zeit Präsident Reagans, die für das Pentagon verfasste Denkschrift "Differenzierte Abschreckung" verfasst hat, wo es unter anderem um das Feindbild für die Zukunft ging. Die Bedrohungszenarien und Einsatzpläne von damals sind eher von historischen Interesse, die Ideen einer "Freibildproduktion" gibt aber gerade im Hinblick auf die Entwicklung nach 2001 zu denken.
Mir ist aufgefallen, wie genau Huntington sein meist zitiertes Buch
Clash of Civilsations plottete – ich hatte beim Lesen das Gefühl, da schriebe jemand ein Exposé für einen Polit-SF-Roman, so "gewollt" ist es, so offenkundig an den Haaren herbeigezogen, aber dabei fein auf weit verbreitet Klischees, Vorurteile und Weltbilder (wie die vom "Christlichen Abendland") abgestimmt.
Mir sind die Thesen Huntingtons zu – sagen wir mal: konstruiert, um sie für bare Münze nehmen zu können. Diese sauber unterschiedenen Zivilisatonskreise, die schon bei zweiten Blick verraten, dass sie auch ganz anders hätten konstruiert werden können, und die so in den Vordergrund geschobenen, angeblich die jeweiligen Zivilisationen tief prägenden Religionen, die allenfalls kulturelle Faktoren unter vielen sind. Warum sind "Lateinamerika" und "der Westen" bei Huntington zivilisatorisch verschieden, obwohl sie beide zum "christlichen Abendland" gehören? Doch wohl, wie er selbst einräumte, aus ökonomischen Gründen und aus der unterschiedlichen historischen Erfahrung.
Huntington kommt mir so vor wie die "Stammtischstrategen", damals, Anfang der 90er, die den Jugoslawischen Bürgerkrieg (wie er damals noch genannt wurde) allein durch den Unterschied zwischen römische-katholischer (Kroaten, Slowenen), orthodoxer (Serben) und islamischer (Albaner) Kultur erklären wollten. Ein arg unterkomplexes Weltbild, dass aber so schön "funktioniert" und scheinbar vieles erklärt.
Und das ist es auch, was mich auch an der offiziösen Darstellung der 9/11-Attentate stört. Sie haben eines mit den Behauptungen der meisten Verschwörungstheoretikern gemeinsam: sie sind unterkomplex. So simpel ist die Wirklichkeit nicht, die Idee einer von einer Höhle irgendwo in den Bergen Afghanistan kommandierte Geheimarmee riecht eher nach einem James-Bond-Szenario.
Huntington lieferte wichtige Plotelemente zu diesem globalen Polit-Thriller, ohne den die "Story" nicht funktionieren würde. Das wichtigste ist die Behauptung, dass wir in einer Art unerklärtem Religionskrieg "the West" vs. "the Rest" stehen würden.
"The Rest" und nicht "nur" der Islam. Das ist ja das Praktische an Huntingtons Werkzeugkasten: mit ihm können Feindbilder so "hergeleitet" werden, wie es gerade passt. Probleme mit Russland? Klar, die orthodoxe Prägung, der Russe ist eben so! Spannungen mit China? Der Chinese als Konfuzianer denkt eben völlig anders als wir Abendländer! Außerdem passt das prima zur Selbstwahrnehmung der einflussreichen "religiösen Rechten" in den USA – und auch zu der konservativer Christen in Europa.
Eine spannende, plausibel wirkende, aber unterkomplexe Erzählung. Ein Politthriller in Form einer politwissenschaftlichen Theorie.

Fest steht jedenfalls: "9/11" passt erstaunlich gut in das Weltbild und zu den Plänen der US-Regierung unter Präsident Bush jr..
Was es doch ein "Inside Job"?

Ich denke: Nein.

Warum konnten die Anschläge am 11. September 2001 dann gelingen? Und das, obwohl einige der Attentäter schon lange (dem FBI bis zu zwei Jahre) vor den Anschlägen bekannt waren und zeitweise überwacht wurden?

Eine Faustregel, an die ich mich gern halte, ist nichts durch eine Verschwörung erklären zu wollen, was nicht einfacher durch Unfähigkeit und Chaos erklärt werden könnte. (Ein Abwandlung von "Occams Razor".)

Im Falle "9/11" herrschte ein geradezu unglaubliches Gegeneinander und Nebeneinander der Dienste (vor allem CIA und FBI) - geradezu ein Kleinkrieg, mit groben Fehleinschätzungen, Vorurteilen, Scheuklappendenken.

Gern übersehen wird, dass es vorher noch nie Flugzeugentführungen mit dem Ziel, die voll besetzten Passagiermaschinen absichtlich in Gebäude zu fliegen, gegeben hatte. Deshalb waren die Sicherheitsorgane, die sich auf bereits gemachten Erfahrungen stützen, nicht auf diesen Fall vorbereitet. Sechs der Attentäter wurden für eine extra gründliche Prüfung ausgewählt, woraufhin das Gepäck zusätzlich auf Sprengstoffe und versteckte Waffen geprüft wurde. Nach der Überprüfung gingen alle Entführer an Bord. Flache, am Körper getragene Teppichmesser hatte niemand auf der Rechnung.

Meine persönliche "Theorie" (eher: Vermutung) ist, dass die Geheimdienste einen nicht unwesentlichen Teil ihrer Ressourcen darauf verwenden, ihre eigene Unfähigkeit zu verschleiern.

John Le Carré behauptet, dass in Geheimdiensten beinahe notwendigerweise Menschen Karriere machen, die in anderen Berufen wegen ihrer latenten Paranoia und ihrem Hang, die Welt stets durch den Filter ihrer jeweiligen Ideologie zu sehen, schwerlich über einfache Sachbearbeiterjobs hinaus gekommen wären. Ähnlich einzuschätzen ist die oft kolportierte, aber plausible Behauptung, dass der Polizeidienst (bzw. allgemein: Sicherheitsdienste, einschließlich Geheimdienste) Soziopathen geradezu magisch anziehen würde.
Rechnet man die Bürokratie in den Diensten, und ihre naturgemäß nur mangelhafte Kontrolle hinzu, dann ergibt sich ein Szenario, gegen das jenes von mächtigen Verschwörern im Hintergrund beinahe gemütlich anmutet.
Einer Welt, die nach völlig anderen moralischen Grundsätzen und Werten funktioniert, als die "Normalwelt", und in der die Aufrechterhaltung des "schönen Scheins" der demokratischen Legitimation fast so wichtig ist wie in der PR-Branche. (Überschneidungen sind im Bereich "Politikberatung" ja vorhanden.)
Hinter diesem schönen Schein verbergen sich interne Machtkämpfe, Inkompetenz, Größenwahn und völliges Fehlen von Skrupeln.
Eine Welt, in der Geheimdienste, die im Falle des CIA nur dem Präsidenten unterstehen und die (wenn nötig) geltende Gesetze brechen können, solche nette Sachen wie Gladio und andere Stay-behind-Organisationen, die nachweislich in mehrere Terroranschläge verwickelt waren, schaffen können. So bizarr anmutende Konstruktionen wie sie in der Iran-Contra-Affäre ans Licht kamen, lassen nur den Schluss zu, dass an der "verschwörungstheoretisch" amutenden Idee, Geheimdienste wären eine Art "Schattenregierung", die ihre eigene Politik machen, etwas ist.

Aber es war wahrscheinlich gar nicht nötig, einen "Inside Job", in dem es viel zu viele Mitwisser gegeben hätte, zu inszenieren.

Vor einigen Jahren bin ich in diesem Blog der Frage nachgegangen, ob an der Verschwörungstheorie, "Pearl Habor" wäre eine Inszenierung gewesen, mit der die Regierung Rosevelt die kriegsunwilligen USA-Bevölkerung kriegsbereit machte, etwas dran sei.
Mein Ergebnis damals: Inszenierung? – Nein! Ein "Let it happen"-Szenario, etwa eines, in dem Funksprüche der japanischen Flotte, die von US-Stellen mitgehört und sofort entschlüsselt wurden, absichtlich verzögert weitergegeben wurden? Ich weiß zu wenig, um die Frage beantworten zu können.
Klar ist, dass "Let it happen" nur wenige Mitwisser erfordert hätte.

Genau so geht es mir mit 9/11. Wobei, wie im Falle Pearl Habor, schon "von allein" so viel schief gegangen ist, dass eine eventuelle "absichtliche Nachlässigkeit" nicht leicht zu entdecken sein dürfte.
Keine „große Verschwörung“, sondern eine miese, fiese, aber entscheidende Kleinigkeit. Den "Rest" hätten die Terroristen im unbeabsichtigter Zusammenarbeit mit den nur begrenzt kompetenten Staatsorganen quasi von selbst erledigt.

Im Pearl-Habor-Fall lassen sich fast alle Argumente der "Verschwörungstheoretiker" widerlegen: nein, es lagen nicht nur alte Pötte auf Hawaii, Schlachtschiffe waren noch nicht so veraltetet, dass man sie ohne weiteres "geopfert" hätte, usw. usw..
Darüber übersieht man dann rasch, dass eben einige wenige Szenarien nicht widerlegt wurden, im Gegenteil, dass sogar Einiges dafür spricht, dass wirklich schon entzifferte und übersetzte japanische Befehle absichtlich einige Tage verzögert wurden.

Tatsächlich betreiben Verschwörungstheoretiker, vor allem die mit den besonders wilden "Theorien", Desinformation, die Durchaus im Sinne der Propagandisten der These vom schier allgegenwärtigen und allmächtigen Terrornetzwerk sind - und der Totalüberwachungs-Fans, die überall potenzielle Terroristen sehen und solche Sachen wie Demokratie und Menschenrechte für "überbewertet" halten. Und sie entwerten - siehe von Bülow - damit andere, vielleicht wichtigere, Teile ihrer Darlegungen.

Die endlosen Debatten, ob ein Hochhaus durch ein Flugzeug zum Einsturz gebracht werden könnte usw. usw. lenken von den wirklich interessanten Fragen ab.
Ebensang (Gast) - 8. Sep, 17:03

Schön zugespitzt zum Ende hin: Der letzte Satz bringt etwas ganz Entscheidendes auf den Punkt.

MMarheinecke - 9. Sep, 11:49

Hajo Schumacher stellt einige der interessanten Fragen Macht 9/11 nicht so wichtig
War 9/11 wirklich ein Schicksalsschlag unfassbaren Ausmaßes, ein Angriff auf alles, was uns heilig ist, der Beginn vom Kampf der Kulturen?
Was wäre gewesen, wenn man Ata und die anderen nicht zu Aggressoren Amerikas ausgerufen hätte, sondern als das betrachtet, was sie waren: ein Haufen Irrer, die über diese Welt kamen wie eine Naturkatastrophe. Wie viele Soldaten und Zivilisten würden noch leben, wenn die damalige US-Regierung nicht dem ersten naheliegenden Cowboy-Reflex gehorcht, sondern die Methode Stoltenberg gewagt hätte?
Meine (vorläufigen) Antworten:
9/11 war ein furchtbarer Anschlag, aber kein "Schicksalsschlag unfassbaren Ausmaßes" und kein "Angriff auf alles, was uns heilig ist" - dazu wurde er erst propagandistisch aufgeblasen. Der "Beginn vom Kampf der Kulturen" war er auch nicht, das Konzept (denn als solches sehe ich ihn) ist älter - aber "9/11" war willkommener Anlass, dieses Konzept massenwirksam zu vermitteln und in den Diskursen zu verankern.
Unter anderen Umständen hätte man die Attentäter auch als "Irre" bezeichnet. Das ist nämlich die zweite gängige Methode, staatlicherseits (und seitens der staatsnahen Medien) auf Terrorismus zu reagieren: Die sind entweder "Staatsfeinde" oder "Irre". Als was sie bezeichnet werden, hängt entschieden vom politischen Kalkül ab.
Die "Methode Stoltenberg", die Reaktion des norwegischen Ministerpräsidenten auf einen terroristischen Massenmörder, fällt in der Tat aus diesem Schema heraus: Anders als die übliche Reaktion "Irrer Einzeltäter" bagatellisierte er die Tat nicht, konzentrierte sich auf die Opfer und betonte vor allem, dass der demokratische Rechtsstaat und die Bürgerrechte gestärkt, und nicht etwa eingeschränkt werden müssen. Denn der Killer war zwar ein Einzelner, er war aber, nach allem, was bekannt ist, weder irre (im Sinne von psychotisch) noch jemand, der völlig isoliert auf die Idee mit der "Propaganda der Tat" gekommen wäre. Er tat, was viele, allzu viele, neurechts eingestellte Christianisten denken.
Wie viele Menschenleben die Reaktion der US-Regierung unter Bush jr. gekostet hat, wage ich nicht zu schätzen. Ein "Stoltenberg-Reaktion", weder hochpeitschen und für machtpolitische Ziele instrumentalisieren, noch (auf Kosten der Opfer) bagatellisieren hätte fast allen von ihnen das Leben gerettet.
Ach ja, die Reaktion der US-Regierung war kein "Cowboy-Reflex", auch wenn sie offen an "Cowboy-Reflexe" appellierte.

Emil (Gast) - 16. Sep, 17:21

"Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod"

Das hinkt vorne und hinten.
Bush hatte überhaupt keine Chance zur "Methode Stoltenberg".
Stoltenberg hatte es mit einem inländischen Einzeltäter zu tun, der sich nach der Tat verhaften ließ. Gefahr gebannt.
Danach war die oberste Aufgabe des Regierungschefs, den Attentäter nicht im nachhinein zu bestätigen.. also: mehr Demokratie, Toleranz, Bürgerrechte statt wie von Breivik erhofft weniger.

Bush hatte es mit einer Organisation im Ausland zu tun, die in Ruhe weiter"arbeiten", die neue Mitglieder "ausbilden", anwerben konnte... Neue Anschläge jederzeit möglich. Alarmstufe rot.
Seine erste Aufgabe war, mit aller Macht zu verhindern, dass neue Terrorattacken stattfinden können.

Einfach so zu tun, als hätte Bush den Stoltenberg machen sollen, verkennt die völlig unterschiedlichen Lagen.
MMarheinecke - 16. Sep, 21:17

Bush hatte in der Tat keine Chance, wie Stoltenberg zu regieren.

Dass lag allerdings vor allem daran, dass er George W. Bush war.
Er glaubte - oder wollte glauben - oder erweckte zumindest der Anschein, dass er glaubte - dass er es mit einer Organisation im Ausland zu tun hätte, die in Ruhe weiter"arbeiten", die neue Mitglieder "ausbilden", anwerben konnte. Mit einer Geheimarmee. So dachte er nun einmal.

Wäre z. B. ein Politiker mit dem Weltbild des rechten CSU-Flügels in Norwegen MP gewesen - oder hätte der selbsternannte Kreuzritter in Bayern zugeschlagen - hätte ich mir leider leicht eine Panikmache-Reaktion vorstellen können. Einschließlich der Forderung nach präventiven Festnahmen, falls jemand im Internet "wirre politische Botschaften" veröffentlicht und einer hysterischen Jagd nach "Sympatisanten". (Die nur da an ihre Grenzen stößt, wo die Ideologie des Killers von Oslo Überschneidungen mit dem '"christlichen Weltbild" a la CSU haben.)
Emil (Gast) - 17. Sep, 12:20

"Wäre... hätte ich mir vorstellen können.."

Naja gut, das sind Spekulationen.
Forderungen nach mehr staatlicher Überwachung der rechten Szene gab es in Deutschland nach Oslo aber parteiübergreifend. Das kann man als Fakt festhalten.

Wer heute im Internet wirre politische Botschaften veröffentlicht, muss in Deutschland auch heute schon mit einer Festnahme rechnen - wenn es sich um wirre Thesen zum Nationalsozialismus handelt. Oder wirre politische Botschaften, die unter Volksverhetzung fallen.
In Norwegen darf man meines Wissen bspw ungestraft den Holocaust leugnen.* Höchstwahrscheinlich gibt es dort auch keinen Strafbestand der Volksverhetzung.
In Deutschland braucht es dazu keinen Hardliner vom rechten Rand der CSU, das existiert längst alles und ist parteiübergreifender Konsens.

*http://www.haaretz.com/jewish-world/norwegian-lawmaker-under-fire-for-denying-the-holocaust-1.351571
MMarheinecke - 11. Sep, 00:01

Seit dem 11. September 2001 ist die Welt eine andere. Seitdem ist Terror, vor allem der nur vermutete, die Allzweckerklärung für alle Einschränkungen von Demokratie, Bürgerrechten und Freiheit. Seitdem wird Politik knallhart mit der Angst der Menschen gemacht, und wenn sie keine haben, wird sie ihnen eben eingejagt, die Angst.
http://www.konstantinklein.com/2011/09/nein-eleven.html

Emil (Gast) - 16. Sep, 17:44

Seitdem wird Politik knallhart mit der Angst der Menschen gemacht..

Die Erklärung, "Angst" werde erzeugt,um eine gewünschte Politik durchzusetzen, lässt sich wirklich immer anwenden. Immer.

Der Streit kann höchstens darum entbrennen, ob eine Angst real oder nur eingebildet ist.


In dem zitierten Abschnitt jagt Konstantin Klein den Lesern Angst vor "Einschränkungen von Demokratie, Bürgerrechten und Freiheit" durch unsere inkompetenten (oder bösartigen?) Politiker ein, um seine Ideen an den Mann zu bringen...
MMarheinecke - 16. Sep, 20:40

Es gibt viele inkompetente und nicht wenige bösartige Politiker ...

... daher halte ich Befürchtungen in diese Richtung für durchaus gerechtfertigt.
Nicht immer wird mit Angst - oder besser - Angstpropaganda - Politik gemacht. Nicht alle Politiker reagieren mit Angstmache auf Terror - ein erfreuliches Beispiel ist die Reaktion des norwegischen Ministerpräsidenten Stoltenberg - im harten Kontrast zu reflexhaft mehr Überwachung fordernden deutschen Politikern wie Uhl und Friedrich (ja, dem Innenminister!), vom allzu machtbewussten BKA-Chef Zirke gar nicht zu reden.

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