"Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen"

Heute, am 10. Mai, ist der "Tag des Buches". Anlaß dieser Tages waren die öffentlichen Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933: Wikipedia:Bücherverbrennung 1933 - Shoa.de:Bücherverbrennung 1933.

Sie waren ein Höhepunkt der organisierten und systematisch vorbereiteten Verfolgung "unbequemer" Schriftsteller. In erster Linie marxististische, pazifististische und jüdischer Schriftsteller, aber nicht nur. Es konnte jeden Schriftsteller treffen, der Rückgrad zeigte, der darauf beharrte, selber zu denken, der seine Gedanken nicht vorzensierte. Jeden "Nicht-Opportunisten".

Und es war keine Kampagne des Propagandaministeriums, keine Inszenierung des diabolischen Dr. Goebbels, auch wenn er begeistert mitmachte. Die Aktion wurde von der Deutschen Studentenschaft geplant und durchgeführt. Und sie war kein historischer Einzelfall. Bei Weitem nicht! Ich empfehle den sehr ausführlichen Artikel Bücherverbrennung in der Wikipedia. Auch heute werden Bücher verbrannt. In den letzten Jahren mit steigender Tendenz. Und es bewahrheitet sich immer wieder auf's Neue, was Heinrich Heine schrieb:
"Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen."
(Almansor. Eine Tragödie, 1821) Seine Worte beziehen sich auf eine Verbrennung des Koran während der Eroberung des spanischen Granada durch christliche Ritter. Sie werden aber auch im Zusammenhang mit der Bücherverbrennung auf dem Wartburgfest 1817 gesehen, zu dem Heine schrieb:
Auf der Wartburg krächzte die Vergangenheit ihren obskuren Rabengesang, und bei Fackellicht wurden Dummheiten gesagt und getan, die des blödsinnigsten Mittelalters würdig waren! (…) Auf der Wartburg herrschte jener beschränkte Teutomanismus, der viel von Liebe und Glaube greinte, dessen Liebe aber nichts anderes war als Haß des Fremden und dessen Glaube nur in der Unvernunft bestand, und der in seiner Unwissenheit nichts Besseres zu erfinden wußte als Bücher zu verbrennen! Ich sage Unwissenheit, denn in dieser Beziehung war jene frühere Opposition, die wir unter dem Namen "die Altdeutschen" kennen, noch großartiger als die neuere Opposition, obgleich diese nicht gar besonders durch Gelehrsamkeit glänzt. Eben derjenige, welcher das Bücherverbrennen auf der Wartburg in Vorschlag brachte, war auch zugleich das unwissendste Geschöpf, das je auf Erden turnte und altdeutsche Lesarten herausgab: wahrhaftig, dieses Subjekt hätte auch Bröders lateinische Grammatik ins Feuer werfen sollen!
(Heinrich Heine: Ludwig Börne. Eine Denkschrift. Viertes Buch, 1840)
Heine erkannte richtig: die Konsequenz aus dem Versuche, "unerwünschtes" und "unbequemes" Denken durch Vernichtung der Schriften der "unerwünschten" und "unbequemen" Denker zu eliminieren, führt zum Wunsch, auch die Denker selbst zu vernichten - und mit ihnen all jene, denen man auch nur "unbequemes" und "unerwünschtes" Denken zutraut. Eliminatorisches Denken ist in der Konsequenz immer möderisch.
Sein zweites Zitat deckt auf, in welcher Tradition die bücherverbrennenden Studenten des Jahres 1933 standen. Es zeigt deutlich: der Nationalsozialismus war kein historischer Betriebsunfall, und es war kein Zufall, dass der systematische, millionenfache Mord an "unerwünschten" Menschen, genannt "Holocaust" oder "Shoa" - wobei es wirklich kein Zufall war, dass Juden den Nazis-Mördern und ihren vielen willigen Helfern als besonders unerwünscht galten - von Deutschen verübt wurde.
Auf der Wartburg wurde gewissermaßen die Krematorien von Auschwitz angeheizt.
Damit man mich nicht falsch versteht: es gibt keine geschlosse Kausalkette, keine "historische Zwangsläufigkeit", keine "historische Schuld" (und schon gar keine "karmische Bestimmung") zwischen den Nationalromantikern des 19. und den Völkermördern des 20. Jahrhunderts. Aber damals wurden die geistigen Strukturen geschaffen, die "Denke" geprägt, die "Auschwitz" möglich machte.

Mit dieser Struktur meine ich die "Nationalromantik", die Idee vom "organisch gewachsenen Staat", die vom "deutsche Blut" und vor allem auch die Idee der "Kulturnation". Die Bücherverbrennungen auf der Wartburg ensprangen nicht zuletzt der Idee des einigende Bandes deutscher Kultur - und wer nicht dazugehören will, dessen Bücher werden verbrannt.

Typisch für die deutsche Nationalromantik ist, wie schon Heine wußte, ihr Hang, nationale Utopien in die ferne Vergangenheit zu projezieren. Zum Beispiel die "Varusschlacht" - im Jahre 9, als die Cherusker unter Arminius gegen drei römische Legionen siegten.
Für patriotische Deutsche war völlig klar, dass die “alten Germanen” durch die Bank “Deutsche” (und zwar national gesinnte Deutsche) waren. Und dass die bösen "Franzmänner" unter Napeoleon usw. zumindest die "Nachkommen" der "alten Römer" sind. Die Schlacht geriet geradezu zum Gründungsmythos Deutschlands - immerhin fast 900 Jahre, bevor zumindest einen Vorgängerstaat dessen, was man später "Deutschland" nennen sollte, gab.
Der Sieg war deshalb so “herrlich”, weil er ein Vernichtungssieg war. Generationen von Schulkindern wuchsen mit der Vorstellung auf, sie seine ein seit der grauen Vorzeit einheitliches Volk, in das “Uneinigkeit” nur durch äußere Einflüsse getragen wurde - ein “Fremder” ein “Einwanderer”, der nicht “vom richtigen Blute” ist, kann kein “wahrer Deutscher” sein.
Die "deutsche Indentität" wurde - und wird! - fast ausschließlich durch Abgrenzung gegenüber "den anderen" und durch "äußere Bedrohungen" hergestellt.

Im deutsche Nationalismus gilt nur die Vernichtung des Feindes wirklich als “Sieg” - “Hermann” (nicht zu verwechseln mit dem historischen Cheruskerfürsten Arminus) “lehrt uns, dass Kompromiss, Verständigung und sogar Gnade nichts als gefährliche Schwäche sind” und dass “wir Deutsche nur unsere Uneinigkeit fürchten müßen”.
Es gibt eine Tradition des “eliminatorischen Denkens”, gegenüber allen, die als “Volksfeinde”, als “außerhalb der Volksgemeinschaft” wahrgenommen werden. Die leider noch nicht gebrochen oder durch etwas Besseres ersetzt worden ist.

Auch nach dem Ende des Hitlerfaschismus bleib dieses Denken virulent. Sowohl die DDR wie die BRD funktionierten nur mittels Feindbilder, angsteinflößender äußerer Gegner, gegen die “wir” zusammenhalten müssen.
Seit 1989 sind die Feindbilder aus dem "Kalten Krieg" weg - und ich habe den Eindruck, dass sie vielen Deutschen fehlen.
Feindbildsuche gibt es auch in anderen Ländern, auch in solchen, die sich auf ihre liberale Tradition zurecht viel zugute halten. Aber ich habe den Eindruck, dass sie hierzulande besonders neurotische Züge annimmt. Am Auffälligsten ist das auf dem Feld der “Sicherheitspolitik” - ja, auch in anderen Ländern wird der “Krieg gegen den Terror” zum Vorwand genommen, Bürgerrechte ab- und einen Überwachungsstaat aufzubauen. Der Unterschied: in Deutschland ist das offensichtlich konsensstiftend.

Anläßlich der Bücherverbrennung vor 74 Jahren weise ich auf eine Veranstaltung in München hin: Brandfleck auf dem Königsplatz - MÜNCHEN liest - aus verbrannten Büchern. - München hat (im Gegensatz zu einigen anderen "Brandstädten") bis heute kein dauerhaftes Zeichen der Erinnerung an die in der ehemaligen "Hauptstadt der Bewegung" groß inszenierte Bücherverbrennung.

Leider gehört auch das zum Umfeld des "Tages des Buches": Ziel der Großrazzien gegen Gegner des G8-Gipfels waren unter anderem auch drei autonome Kulturzentren, die Rote Flora in Hamburg, das Künstlerhaus Bethanien und das Kulturzentrum Mehringhof in Berlin.
Ich bin kein Gegner des G8-Gipfels an sich, allerdings ein entschiedener Gegner des bizarren Angst-Abwehr-Apparates, genannt "Sicherheitsmaßnahmen".

Im Falle der "Roten Flora" kann ich sagen: Randale an der Roten Flora - das war mal. Und wer heute behauptet, die "alternativen Kulturzentren" seien Zentren der "gewaltbereiten Linken", der lebt geistig in den 80er Jahren, als die Hafenstraßenhäuser noch keine alternative Wohngenossenschaft waren. Da werden überholte Feindbilder reaktiviert. Weil "man" sich offenbar braucht - siehe oben!
Es ist auch kein Zufall, dass es gerade Kulturzentren trifft, denn
Kultur ist subversiv. Kultur ist gefährlich. Vor allem "alternative", "autonome", nicht staatlichen oder kommerziellen Vorgaben gehorchende Kultur. Wenn ein Staat das nicht mehr aushällt, dann werden nicht unbedingt Bücher verbrannt. Aber möglicherweise bald im Interesse der Sicherheit verboten.
Die Aktionen dienen, vemute ich, nicht in erster Linie der "Sicherheit des G8-Gipfels". Sie sind vor allem Machtdemonstrationen. Einschüchtern, damit "Ruhe im Land" herrscht. Teil der Erziehung zum Duckmäusertum.
pil (Gast) - 10. Mai, 09:25

Heines Meinung über das Geschehen auf der Wartburg ist schon bemerkenswert und lässt diesen Anlass auch für mich in etwas anderem Licht erscheinen. Nun ist ja der Zusammenhang zwischen Nationalromantik und Faschismus keineswegs überall so stringent. In der Schweiz war die wohl auch nationalromantische zu bezeichnende Erschaffung nationaler Mythen und Symbole gerade mit einer Ablehnung der Gleichung "eine Sprache - ein Blut - eine Schicksalsgemeinschaft" und dem Ruf nach radikaldemokratischen Neuerungen, Menschenrechten und Diskriminierungsverboten verbunden.

Den Unterschied macht wohl weniger die Forderung nach dem eigenen Staat aus, sondern die spezifisch deutsche Definition von Nation als Sprach- und Abstammungsgemeinschaft. Sie ist offenbar noch heute sehr lebendig: kürzlich durfte ich lesen, das wir Schweizer "historisch gesehen" Deutsche seien (http://www.blogwiese.ch/archives/580). Schliesslich sprechen wir ja Deutsch und gehören damit zu deutschen Nation. Basta. Fehlt nur noch die Folgerung, dass nun endlich Zusammenwachsen soll was zusammengehört...

Dieses Vereinnahmende, Vereinheitlichende, das dem deutschen Verständnis von Kultur und Sprache immer noch anhaftet, empfinde ich als Nichtdeutscher deutscher Muttersprache als extrem verstörend. Man möchte sich fast wünschen, jenes Fest auf der Wartburg hätte niemals stattgefunden, und das Land zwischen Nordsee und Alpenrhein wäre der vielfältige, bunte Flickenteppich geblieben, der es mal war...

Grüsse nach D, pil

MMarheinecke - 10. Mai, 18:07

Nationalromantiken

Ja, pil, die Nationalromantik hatte in unterschiedlichen Nationen unterschiedliche Auswirkungen. Mit der Schweizer Variante habe ich mich bisher nicht so beschäftigt, die Dänische und die (Namensgebende) Norwegische ist mir recht gut vertraut. Diese Varianten betonen die "Individualität der Völker". Der Sprachforscher Ivar Aasen z. B. hatte die typisch nationalromantische Idee, dass die Sprache eine Ausdrucksform des Volksgeistes sei, d.h. eine eigene Sprache gehört zu einer selbständigen Nation. Nun sprachen (und sprechen) die meisten Norweger eine Sprache, die eigentlich ein Dialekt des Dänischen ist. Aasen meinte, dass Dänische könne nicht norwegisiert werden, weil es einem anderen Volk und Volksgeist entstammt. In der Folge schuf er ein künstlichem Nynorsk genannte Sprache auf der Grundlage alt-norwegischer Dialekte. (Die sich als Nationalsprache außer in Westnorwegen, wo eine Vielzahl "alter" Dialekte gesprochen wird, nicht durchsetzte.)
(Ich stelle mir gerade vor, was passiert wäre, wenn die Schweizer auch so gedacht hätten.)
Ähnlich die Entwicklung in Dänemark: die Dänen "entdeckten" in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre uralt-eigenständige Kultur.
Die deutschen Nationalromantiker empfanden - verständlicherweise - die extreme Kleinstaaterei im "Deutschen Bund" als Hindernis auf dem Weg zu einem modernen, freiheitlich verfassten, Staat, durchaus nach französischem oder britischem Muster. ("Die Freiheit, das ist die Auktion / von fünfzig Fürstenhüten".) Weil sie aber die Sprache und Kultur (neben dem ominösen "deutschen Blut") als Merkmal für "deutsch" ansahen, wurden in der Folge z. B. die Elsässer aufgrund ihrer Sprache als Deutsche "eingemeindet", obwohl ihre Loyalität mehrheitlich Frankreich galt. Umgekehrt wurden z. B. die Sorben ausgegrenzt, weil sie eine slawische Sprache sprachen.

Die deutsch-dänischen Kriege 1848 und 1863 liefern reichliches Material, wie sich die jeweligen "romantisch" Nationalideologien auswirkten: die "völkisch-vereinahmende" deutsche und die "völkisch-individuelle" dänische.

Noch "spannender" war es, wenn nationalromantisch "alldeutsche" mit nationalromantisch "allpolnischen" Vorstellungen kollidierten. Wobei die Polen ja im 19. Jahrhundert außer ihrer Nationalromantik buchstäblich keine "nationalstaatliche Grundlage" hatten, und als kulturelle Gruppe unterdrückt wurden - was einige nationalistische Entgleisungen entschuldigt.

Die Bedeutung des Wartburgfestes für die "nationale Einigung" Deutschlands, die an allen "etnischen", sprachlichen und kulturellen Erwägungen vorbei (die deutschsprachigen und sich damals überwiegend auch wirklich als "deutsch" empfindenden Östereicher bleibt draußen, dafür gehörten riesige polnisch-sprachige Gebiete zum Reich - und von Elsass-Lothringen war schon die Rede) durch "Eisen und Blut" erfolgte, halte ich für eher gering.

Mir währe es am liebsten gewesen, im 19. Jahrhundert wäre in Mitteleuropa ein bewußt kulturell uneinheitlicher, und u. U sogar mehrsprachiger Bundesstaat nach Schweizer Vorbild entstanden. Aber die Chance war spätesten nach der gescheiterten 1848er Revolution vom Tisch.
pil (Gast) - 14. Mai, 08:36

Die ganze Gotenverehrung in Schweden baut so viel ich weiss ja schon auf frühneuzeitlichen Abstammungsmythen auf. Ich gebe Dir recht, dass wohl die Verbindung zwischen "Hermann" und dem Hass auf Napoleon den deutschen Nationalismus so agressiv hat werden lassen. Spannende Frage in diesem Zusammenhang: Inwiefern wiederholt sich dieses Muster bei heutigen Neuheiden? Mir fällt da immer wieder auf, dass bei allem Interesse für Kelten und Slawen, das romanische Europa nicht gerade hochgeachtet ist...
MMarheinecke - 14. Mai, 13:13

Antirömische Neuheiden?

Ja, es stimmt, sehr viele auch "nichtvölkische" Neuheiden identifizieren sich mit Germanen, Kelten und (bei uns selten) Slawen - wobei oft "die Römer" als "Feinde der Ahnen" gesehen werden. Ein weiterer Gund ist der, dass das Römische Reich stellvertretend für eine imperialistische Großmacht steht (ich nenne diese Form des Antiromanismus" die "Asterix-Perspektive"). Hinzu kommt eine Abneigung gegen das gerade in "gebildeten Kreisen" weit verbreiteten Barbarenklischee - "Nördlich der Alpen lebten früher nur unzivilisierte Wilde in Lehmhütten, bis dann die Römer als Kulturbringer auftauchten."
Sehr weit verbreitet und sehr problematisch ist der Hang, das als "fremd" und zerstörerisch wahrgenommene Christentum und die oft gewaltsame Christianiesierung des europäischen Nordens mit "Rom" zu indentifizieren. Noch problematischer (und sehr nationalromantisch) ist die Abneigung gegen den Rom als "widernatürlichen Vielvölkerstaat", der den unterworfenen Völkern "die Identität raubte" und einen "kulturell verarmten Einheitsbrei" schaffte - der dann verdientermaßen unterging.

Übrigens gibt es gar nicht mal so wenige Anhänger des altgriechischen Pantheons - nach meinem Eindruck gibt es in Deutschland weitaus mehr Hellenisten als z. B. slawisch orientierte Heiden. Die Übergänge zur "Religio Romana", die durchaus bei uns einige Anhänger hat, sind, wie schon im Altertum, fließend.
Pil (Gast) - 12. Mai, 09:52

Radikalliberale Romantik

Nun, von der Schweizer Nationalromantik liest man nicht viel, weil sie im allgemeinen nicht so heisst. Dennoch gab es natürlich auch hier ein Erschaffen von kulturellen Identitätsmerkmalen und nationalen Mythen.Dabei wurde zum einen auf die alteidgenössischen Kriegermythen aus dem 15. JH zurückgegriffen, etwa den Wilhelm Tell oder die grossen Schlachten gegen Habsburg. Diese wurden aber völlig neu interpretiert, die damalige Ethnogonie (Abstammung der Schwyzer von den Schweden) und die starke Anbindung an den Katholizismus (die alten Schwyzer als Schutzmacht des Papstes) wurden nicht mehr beachtet.

Basis war vielmehr Schillers Wilhelm Tell. Damit war auch die neue Stossrichtung vorgegeben: Schweizertum war fortan untrennbar mit hohen Bergen, urzeitlicher Freiheit à la Rousseau und radikaler Demokratie verbunden.

Kulturell wurde dabei der Alpenmythos übermächtig: Dichter wie Rousseau hatten das "*Schweizerische Hirtenland" im 18. JH als Ort paradiesischer Harmonie und Freiheit beschrieben (was unter anderem daran lag, dass sie es zu einer Zeit kultureller und wirtschaftlicher Blüte bereist hatten). In der Folge wurde alpines Brauchtum aufgegriffen und uminterpretiert, in den patrizischen Städten sang man in den Salons Kuhreihen, bürgerliche Honoratioren zeigten sich stolz im Kühergewand. Ein grosser Teil der heutigen "Schweizer Folklore", vom eidgenössischen Schwing- und Älplerfest bis zu den unzähligen "Jodlerclubs" und ihrer Musik ist ein Produkt dieser "Nationalromantik" - was heute natürlich keiner mehr realisiert.

Eine der Folgen der unterschiedlichen nationalen Mythen sind übrigens die permanenten Misverständnisse zwischen alemannischen Schweizern und Deutschen. So bezeichnet die Begriffe "Nation" und "Volk" bei uns eben gerade nicht eine sprachlich-kulturell-biologisch homogene Gruppe, entsprechend haben auch "Heimat", "Volk" oder "Urschweiz" (letzteres ein rein geographischer Begriff" entwas ganz anderes, als ein Deutscher Höhrer versteht. Was zur Folge hat, das der Deutsche ob des vermeintlich völkischen Vokabulars des Schweizers erschauert, letzterem aber das Sensorium fehlt, "angebräunte" Gesprächspartner rechtzeitig als solche zu erkennen ; )

Was die nordische Nationalromantik angeht, war die ja sehr separatistisch und auf das mittelalterliche Königtum bezogen. Nicht auszudenken was geschehen wäre, wenn man sich statt auf den Heiligen Olaf auf die Wikinger bezogen hätte und ein nordisches Grossreich von Grönland bis Helsinki eingefordert hätte.

Damit wären wir doch wieder bei der deutschen Nationalromantik. Vielleicht war es eben doch der Bezug auf die Germanen, auf "Hermann" und Siegfried, der den deutschen Nationalismus von Anfang an in die Irre führte. Mit dem ambivalenten, in Sizilien geborenen Friedrich II von Hohenstaufen als Nationalhelden hätte das junge Deutschland vielleicht ein anderes Selbstverständnis entwickeln können...

MMarheinecke - 12. Mai, 14:53

Sonderfall "Schweden"

Danke erstmal für die interessanten Einsichten.
Nicht auszudenken was geschehen wäre, wenn man sich statt auf den Heiligen Olaf auf die Wikinger bezogen hätte und ein nordisches Grossreich von Grönland bis Helsinki eingefordert hätte.
Doch das gab es: in Schweden! Auch in Schweden gab es eine nationale Romantik, allerdings ohne den Hass gegen Napoleon (der für die Ausrichtigung der deutschen Nationalromantik so verheerend war) und (im Gegensatz zu Norwegen, Island und auch Dänemark) ohne politisches Ziel ("Nationengründung" in Norwegen und Island, Identitätsfindung nach den Napoleonische Kriegen in Dänemark , dass von einer "mittleren Macht" zum "kleinen Land am Rande" herabgesunken war.) Man holte die Wikinger aus der Versenkung empor und begeisterte sich für die Wanderzüge der Goten. Im Jahr 1811 wurde der "Götischen Bund" gegründet. Peter Ling, ein genaues Gegenstück zu Friedrich Ludwig Jahn, entwickelte ein Turnprogramm zur körperlichen Ertüchtigung und schrieb chauvinistische Gedichte auf Altnordisch. Erik Gustaf Geijer, auch ein nationalromantischer Dichter, allerdings besserer literarischer Qualität, betätigte sich mit einigem Erfolg als "Sprachpfleger" und "reinigte" die schwedische Sprache von "Fremdeinflüssen" bzw. dem, was er dafür hielt.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert gab es außer in Schweden auch in Norwegen und Dänemark einen quasi-"wagnerischen" Germanenkult, und von Deutschland / Österreich her griffen Theosophie und Rassenmythik, die
Idee der Überlegenheit der "nordischen Rasse" und von Hyperborea bzw. Thule als "Urheimat der menschlichen Kultur" auf den Norden über. Allerdings: Großmachts- und Eroberungsträume erwuchsen daraus nur in Schweden, wohl weil es als einziger nordischer Staat ein wichtiger Rohstofflieferant und ab dem späten 19. Jahrhundert dann auch eine wichtige Industrienation war, und eine Großmachtpolitk deshalb nicht von vornherein absurd erschien. Um ein Haar wäre Schweden im 1. Weltkrieg nicht neutral geblieben, sondern hätte sich aus Großmachtträumen heraus mit Deutschland verbündet.
Friedrich der II. wurde in der populären deutschen Darstellung des 19. Jahrhunderts bis zur Unkenntlichkeit nationalistisch verzerrt. Ein Schicksal, dass er mit den "alten Germanen", aber auch mit Friedrich Barbarossa, Heinrich dem Löwen, Heinrich II., und auch Karl dem Großen teilte.

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