Samstag, 5. Februar 2011

Das letzte Tabu

Ein Gedankenexperiment, angeregt durch einen Blogbeitrag von Ace Kaise: Til Schweiger fordert... Ja, was eigentlich? .

Til Schweiger wütet bei Lanz gegen Sexualstraftäter
Man stelle sich vor, Til Schweiger hätte in einer Talkshow gefordert, Anlagebetrüger nach verbüßter Strafe per Internet-Pranger kenntlich zu machen. Immerhin hätten diese Kriminellen Tausenden ihrer Opfer die gesichert geglaubte wirtschaftliche Existenz ruiniert und sind auch nach verbüßen ihrer Strafe mit ihrem Wissen über Finanzmärkte und ihrer Fähigkeit, Gutgläubige über den Tisch zu ziehen, nach wie vor gefährlich.

Absurd? Nicht unbedingt. In späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit war es üblich, einen Betrüger körperlich zu "zeichnen", durch Aufschlitzen der Nase oder eines Ohrs (daher kommt der Begriff "Schlitzohr"). Sicherlich könnte der eine oder andere durch eine "Betrüger-Warnliste" vor dem Ruin durch Anlagebetrug gerettet werden. Aber eben so sicher würde sie in der Praxis jede Rehabilitation unmöglich machen.

Til Schweiger würde wahrscheinlich antworten, es ginge schließlich nicht um schnödes Geld, sondern um Kinder. Da müsse man einfach, nach dem Vorbild der USA, doch das "Gutmenschentum" an den Nagel hängen und im Internet die Aufenthaltsorte entlassener Sexualstraftäter veröffentlichen. Da könne er sehe, ob in seiner Nachbarschaft ein Sexualstraftäter lebe oder nicht.
Schweiger ist Familienvater und hat Angst um seine Kinder. Aber das ist meines Erachtens nicht der entscheidende Grund, aus dem er so viel öffentliche Zustimmung für seinen Wutausbruch erhielt.

Bekanntlich werden die meisten Sexualverbrechen an Kindern von Verwandten, guten Bekannten und Familienangehörigen verübt. Laut Statistik des BKA sind das 96 % - nur 4 % der Täter gehören zu denen, die Schweiger um seine Kinder fürchten lässt.
Genau so bekanntlich wird diese traurige Tatsache gern verdrängt. Die Täter, die so etwas schreckliches wie Kinder vergewaltigen tun, sind (in der Regel) "normale" Menschen und meistens "normale Menschen, die wir kennen".
Daher ist es so beruhigend, sich auf "abnorme" Sextäter zu konzentrieren, die einem fremd sind, und die daher gekennzeichnet werden müssen.

Hinzu kommt, dass Schweiger mit einem Teil seines Wutausbruches einen tatsächlichen wunden Punkt berührt: Deutschland ist in der Tat eine "Tätergesellschaft", wie es eine Mitarbeiterin der Opferberatungsstelle "Wildwasser" ausdrückt. Es beginne damit, dass das Opfer einer Sexualstraftat ein Glaubwürdigkeitsgutachten vorlegen müsse. Vor allem die psychischen Schäden des Opfers werden kaum gewürdigt. Es wird in der Tat weitaus mehr für die Täter als für die Opfer getan.
Beifall für Til Schweigers Wutrede gegen Sex-Täter (der Westen)
Das ist allerdings kein Zufall. Sowohl die Gesetze wie die öffentliche Empörung konzentriert sich auf die Täter, wobei in den Boulevardmedien (und das können inzwischen sogar "An-sich-Qualitätsmedien" sein) offen Rachephantasien gepflegt werden. Es ist offensichtlich, dass eine harte Strafe für den Täter, womöglich die Todesstrafe, den Opfern auch nicht hilft.
Auch Till Schweigers Vorstellung, es müsse einen Internetpranger für Sextäter geben, ist faktisch täterfixiert! Denn ob das eine wirksame Prävention wäre, darf nach den Erfahrungen in den USA bezweifelt werden.

Es gibt aber noch einen tieferen Grund, wieso Schweiger mit diesem Wutausbruch so gut punkten kann - während er mit einen ähnlichen Ausbruch zu einem anderen Thema sich wahrscheinlich unmöglich gemacht hätte. Es ist der selbe Grund, wieso z. B. der Diskurs über Internetsperren immer und immer wieder auf das Thema "Kinderpornos" im Internet kommt.

Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern ist, so der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch, das einzige Tabu, das nach den Zeiten der sexuellen Aufklärung blieb.
Ich bin allerdings der Ansicht, dass es mindestens ein weiteres noch allgemein wirksames sexuelles Tabu gibt: das Inzesttabu. Selbst eindeutig einvernehmlicher Sex unter nahen Verwandten ist nach wie vor strafbar - obwohl es kein Opfer gibt. Das Inzesttabu schützt in gewisser Weise sogar eine große Tätergruppe der sexuellen Gewalttäter gegen Kinder, die der Eltern und Geschwister.

Ein Tabu ist etwa anderes als eine gesellschaftliche Ächtung. Raubmord ist allgemein geächtet, es gibt praktisch niemanden, der für einen Raubmörder auch nur ein Quentchen Verständnis hätte. Trotzdem umgibt das Verbrechen "Raubmord" kein Tabu.
Tabus sind unhinterfragt, strikt, bedingungslos. Mit Tabu belegte Handlungen unterliegen stillschweigenden Übereinkünften, die tiefer in das allgemeine Verhalten eingreifen als Gesetze und geschriebene und ungeschriebene Regeln und Normen.
Tabus gewährleisten eine nahezu maximale Übereinstimmung des Verhaltens und Handelns einer sozialen Gruppe - wer ein Tabu verletzt oder auch nur hinterfragt, wird ausgegrenzt. Nicht allein der Täter ist "abgrundtief böse", sondern auch jeder, der wagt, den Täter nicht für "abgrundtief böse" zu halten. Auch weil normalerweise niemand enge Bekannte oder Familienangehörige für durch und durch "böse" hält, konzentriert sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf nur vier Prozent der potenziellen Täter.

Tabus haben aber auch eine andere Seite: sie stiften Konsens, sie halten eine Gemeinschaft zusammen. Tabus stabilisieren das Machtgefüge einer Gesellschaft, denn Tabus beruhen auf existenziell empfundener, verinnerlichter Strafangst.
Damit gerät das einzige verbliebene Sexualtabu automatisch in den Fokus, wenn z. B. Politiker Zustimmung zu Gesetzentwürfen erzielen wollen, die beim Wahlvolk wenig beliebt sind. Mit dem Thema "Kinderschänder" erreicht man die am Leichtesten.
Das Inzesttabu wäre dafür nicht mobilisierbar, denn Inzest "im Internet" geht nicht.

Interview mit Volkmar Sigusch Kindesmissbrauch "Es muss endlich um die Opfer gehen"

Nachtrag: Es kursieren unterschiedliche Angaben darüber, wie hoch der Anteil der "fremden und unbekannten" Täter im Vergleich zu Tätern aus dem "Nahbereich" sind. Die von mir oben genannten 96 % der Sexualverbrechen an Kindern, die von "Verwandten, guten Bekannten und Familienangehörigen" hängen sehr davon ab, wie diese Gruppen definiert werden - und auch davon, welche Taten als "Sexualverbrechen" aufgefasst werden. Hinzu kommt eine Dunkelziffer, über deren Höhe es weit voneinander abweichenden Schätzung gibt.
Bei der Kriminalstatistik muss man sich vor Augen halten, dass darunter nur die Taten fallen, die angezeigt wurden. Je näher der Täter dem Opfer steht, desto geringer ist die Chance, dass es zu einer Anzeige kommt.
Hart gesagt: diese Zahl ist in beide Richtungen manipulierbar.

Unabhängig von den Zahlen gilt:
Klischee und Wirklichkeit: Während Kinder auch heute immer noch vorwiegend vor dem "fremden Mann" gewarnt werden, tritt sexueller Missbrauch durch Fremde vergleichsweise selten auf. Fremden Tätern sind in der erster Linie exhibitionistische und damit die eher harmlosen Formen des Missbrauchs zuzurechnen. Allerdings begehen (zumeist) fremde Täter auch die - sehr seltenen - Extremtaten (Entführung, Missbrauch, Misshandlung und schließlich sogar Tötung). Einen totalen Schutz vor solchen Gewalttaten gibt es nicht; dennoch sind eine fortwährende Angst oder gar Panik weder angebracht noch hilfreich. Denn: Nicht verängstigte, in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkte Kinder, sondern mutige, starke und selbstbewusste Kinder sind am wirksamsten vor sexuellem Missbrauch geschützt.
(Aus: Polizei-Beratung: Sexueller Missbrauch von Kindern)

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