Samstag, 13. November 2010

Gewissensfrage - oder eine Frage der Religion?

Es überrascht mich ein wenig, dass ausgerechnet Bundesforschungsministerin Schavan (CDU) so explizit Stellung zur Prä-Implantationsdiagnostik (PID) nimmt - ihre Meinung überrascht mich hingegen nicht im Mindesten:
Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU) hat sich im Vorfeld des CDU-Parteitages in Karlsruhe für ein Verbot der Prä-Implantations-Diagnostik (PID) ausgesprochen. "Ich bin für ein Verbot der Prä-Implantations-Diagnostik", sagte die stellvertretende Parteivorsitzende dem "Kölner Stadt-Anzeiger" (Samstag-Ausgabe). "Ich bin überzeugt davon, dass sich der Mensch nicht selbst schafft und die Zulassung der PID immer größere Weiterungen haben wird. Am Ende entscheidet das Gewissen."
Kölner Stadt-Anzeiger

Frau Schavans Ansicht stimmt mit der der römisch- katholische Kirche überein - da sie katholische Theologie studiert hat, und Vizepräsidentin des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken (ZdK) war, wäre es eher überraschend, wenn sie es nicht täte.
Daher ist es nur folgerichtig, dass sie nicht utilitaristisch oder humanistisch argumentiert, sondern religiös: "Ich bin überzeugt davon, der sich der Mensch nicht selbst schafft" ist von Wortsinn her eine Tautologie - klar ist "der Mensch" nicht Produkt menschliche Erfindungsgeistes. Dieser Satz hat meines Erachtens nur dann einen Sinn, wenn man ergänzt: " .. denn der Mensch ist Gottes Schöpfung, und es steht uns Menschen nicht zu, Gott ins Handwerk zu pfuschen." Allerdings beschränkt sich das Verbot, "Gott in Handwerk zu pfuschen" in der römisch-katholischen Lehre (anders etwa als bei manchen evangelikalen Fundamentalisten) auf den Beginn und das Ende des Lebens. Selbst die Haltung des Vatikans gegenüber Organtransplantationen - einem der meiner Ansicht nach ethisch heikelsten Gebiete der Medizin - ist positiv.
Bei der PID werden durch künstliche Befruchtung erzeugte Embryonen auf Gendefekte untersucht und im Fall von Schäden vernichtet.
Das ist der springende Punkt: eine befruchtete Eizelle ist nach katholische Lehrmeinung ein Mensch und im vollem Besitz der Menschenwürde - ungeachtet der Tatsache, dass auch bei natürlicher Empfängnis nur wenige Blastozysten sich erfolgreich in der Gebärmutter einnisten - und noch weniger sich zum lebensfähigen Menschen weiterentwickeln.
(Konsequent zu Ende gedacht: Verhütungsmittel, die wie die "Spirale" verhindern, dass das Embryo sich einnistet, wären Mordinstrumente, und wenn eine Frau unmittelbar nach der Empfängnis z. B. Leistungssport treibt, und ihr Embryo deshalb abgeht - was in den meisten Fällen nicht einmal bemerkt wird - beginge sie fahrlässige Tötung. Es gibt Fundamentalisten, die es fertigbringen, so konsequent zu denken!) Eine solche rigorose Position ist bequem, denn sie geht den meisten definitorischen und argumentativen Schwierigkeiten aus dem Weg. Gutes Gewissen inbegriffen - es liegt ja "in Gottes Hand"!

Aus meiner - bekanntlich heidnischer - Sicht teilen sich die Befürworter und Gegner der PID in ein quasi-fundamentalistisches Lager, das vatikanischen Glaubensregeln Vorrang auch vor demokratisch getroffenen Entscheidungen einräumt, und eines, das religiöse Dogmen nicht zu Prinzipien staatlicher Rechtsprechung machen will. Die für deutsche Diskurse nicht untypische Neigung zur Rechthaberei - besonders ausgeprägt in der Politik - verstärkt dieses Lagerdenken noch.
(Heißen Dank übrigens an Frau Bundeskanzlerin Merkel - sie fürchtet nicht nur ein Nachlassen des christlichen Glaubens in Deutschland, sondern meinte zu Sarrazins umstrittenen Ansichten zur Fragen der Integration, der drohenden Verdummung, den drohenden Untergang mindestens Deutschlands und dem ganzen Rest: "unerwünschte Meinung". Ich denke: eine menschenverachtende Meinung ist eine menschenverachtende Meinung - für mich nicht akzeptabel, aber nicht "unerwünscht"!
Wen ich nur noch Meinungen zur Kenntnis nehme, die mir passen, kann ich es mir von vornherein sparen, mich mit Auffassungen wie denen Sarrazins auseinanderzusetzen. Das ist bequem, und schont die Nerven, sicher, aber für mich verrät ein Politiker, der oder die von "unerwünschten Meinungen" redet, was sie oder er von Meinungsfreiheit und Debattenkultur hält: nichts!)

Interessanter ist da schon der zweite Halbsatz "die Zulassung der PID immer größere Weiterungen haben wird". Ein klassisches "Argument der schiefen Ebene" oder "Dammbruchargument", das nicht von der Hand zu wischen ist, denn ist sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, genau abzugrenzen, was denn schwere Krankheiten sein sollen, bei denen eine PID zugelassen werden soll.

So, wie unsere Gesellschaft konstruiert ist - die ja zugleich Leistungsgesellschaft und "Statusabsicherungsgesellschaft" ohne Chancengleicheit ist - gibt es einen starken Drang zur Zurichtung des Menschen und zur Selbstoptimierung. Hinzu kommen klare wirtschaftliche Interessen, etwas der Versicherungen an geringen Risiken oder von Unternehmen an gesundheitlich belastbaren Beschäftigten. Es wäre illusorisch, unter diesen Rahmenbedingungen zu erwarten, dass es keinen heimlichen Zwang zur PID bei künstlicher Befruchtung oder ausufernder pränataler Diagnostik geben wird.
Außerdem ist die Gefahr groß, dass Druck auf Eltern behinderter Kinder entsteht ("So was muss doch heutzutage nicht mehr sein!"). Es ist leider keineswegs abwegig, dass wieder zwischen angeblich gutem und angeblich "lebensunwertem" Leben unterschieden wird.

Eine schwierige Frage. Ich neige in solchen Fällen dazu, keine unabänderliche Ansichten zu haben - ich denke, es gibt dabei keine Position der substanzieller Wahrheit.

Eine Parallele ist meine Haltung zur Kernenergie. Ich lehne sie ab, aus pragmatischen Gründen. Etwa, wegen des ungelösten Endlagerproblems für über Jahrhunderttausende gefährlichen Atommüll, oder weil die verwendeten Reaktoren nicht inhärent sicher sind, also das Funktionsprinzip selbst schwere Unfälle, z. B. Kernschmelzen, ausschließt. Wenn ich an Anti-Atom-Demos teilnehme - ich tue das seit über 30 Jahren - dann nicht, weil ich die Kernspaltung für Sünde hielte - tatsächlich, es gibt Leute, die so argumentieren! - sondern für gefährlich. Ein inhärent sicherer Reaktor, der keinen über langen Zeit gefährlichen Atommüll produziert, könnte dazu führen, dass ich meine Meinung ändere. Allerdings gibt es solche Reaktoren bisher nicht.

Persönlich finde ich es unerträglich, wenn mir staatliche Stellen vorschreiben wollen, wie ich persönliche ethische Entscheidungen zu treffen habe. Ich weiß, dass "negative Eugenik" einfach nicht funktioniert - also mache ich mir über Eltern, die vermeiden wollen, dass ihre Kinder an Erbkrankheiten leiden, wenig Gedanken. (Mehr schon über gesellschaftliche Zwänge, die "eugenisches" Denken hervorbringen können.) Es ist ein gesellschaftliches Problem, wie mit behinderten Kindern und deren Eltern umgegangen wird - egal, ob es PID und Pränataldiagnostik gibt oder nicht. Und wenn eine Frau perfektionistische Ansprüche an die "Erbgesundheit" ihres Nachwuchs hat, dann ist das meiner Ansicht zwar total daneben, aber nicht mehr daneben, als Eltern, die schon Kleinkinder auf eine künftigen erfolgreiche Karriere zurichten.
Ich halten ein Verbot der PID für gesellschaftlich gefährlicher als ihre Zulassung. Es ist wie mit den Abtreibungen: wer es sich leisten kann, macht es im Ausland. Der Heuchelei - und der Klassengesellschaft - wird Vorschub geleistet.

Dann bin ich der Auffassung, dem PID-Verbot - wie übrigens dem ganzen deutschen Embryonenschutzgesetz - liegen weltanschauliche, letztendlich religiöse, Bestimmungen zugrunde, die nicht verallgemeinerungsfähig sind und die in einem liberalen Staat mit offener Gesellschaft niemandem aufgezwungen werden dürfen!

Noch zuletzt das Killer-Argument: Kein Rückfall in die menschenverachtende Politik der Nazis! Das wäre nur der Fall, wenn Eugenik "Staatssache" würde, und wenn Eugenik / Dysgenik unter Gesichtspunkten der "Degeneration", etwa in dem Sinne, dass weniger intelligente Menschen mehr Nachkommen hätten, als intelligente, oder der Prävention zugunsten "Volksgesundheit" verhandelt würde.
Außerdem wäre das NS-System auch ohne Eugenik und "Euthanasie"-Morde menschenverachtend und beispiellos mörderisch gewesen! Im Schweden der 30er Jahre gab es eine ähnlich strenge Erbgesundheitsgesetzgebung wie in Nazi-Deutschland (wenn auch ohne die nazitypischen drakonischen Strafen). Trotzdem gibt es keinen Zweifel daran, dass die Menschenrechte und die Menschenwürde in Schweden weitaus mehr geachtet wurde, als in fast allen anderen Nationalstaaten der damaligen Zeit.

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