Sonntag, 3. Oktober 2010

Einigkeit und Recht! Und Freiheit?

Anlässlich 20 Jahre "deutsche Einheit".

Im Großen und Ganzen ist sie, trotz verblühender Landschaften (vor allem in Brandenburg und Vorpommern zu besichtigen), eine Erfolgsgeschichte. Darin stimme ich mit der ehemaligen DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld überein. (In manchem Anderen kann ich ihr nicht zustimmen.)
Vera Lengsfeld: "Die DDR ist weg, das war ein Erfolg!"
Einige bemerkenswerte Zitate aus diesem Interview, das sie "Focus online" gab, nebst etwas Senf:
Lengsfeld: Sicher. Das System der DDR hat Menschen hervorgebracht, die bereit waren, ihre Nächsten zu verraten. Das hat etwas mit dem System zu tun, aber nicht mit dem Menschen an sich. Mein Vertrauen in die Menschen ist dadurch überhaupt nicht berührt.
Da hat sie recht: ob es in einer Gesellschaft Denunziation und Spitzelei gibt, ist eine Sache der Struktur dieser Gesellschaft. Im Einzelfall ist es natürlich eine Charakterfrage, ob jemand bereit ist, zu Denunzieren und Privatsachen auszuspionieren, aber in einer nach meinem Verständnis intakten Gesellschaft wird Denunziation und Schnüffelei nicht belohnt, sondern verachtet - der "schwache Charakter" kommt nicht zum Zuge. Auch die Bundesrepublik war nie eine Gesellschaft, die sich durch besonderen Respekt vor der Privatsphäre ausgezeichnet hat. Spätestens seit der Jahrtausendwende sehe ich einen deutlichen Trend in Richtung eines Systems, das wieder Menschen hervorbringt, die bereit sind, ihre Nächsten zu verraten.
[...] Viel wichtiger ist, dass durch diese Geschichte die Lebenslüge der geistigen Elite dieses Landes ins Wanken gerät: die Legende, dass die 68er-Bewegung die eigentliche Geburtsstunde der Demokratie in der Bundesrepublik bedeutet habe. Das Gegenteil ist der Fall. Diese Bewegung hat nicht gegen ein repressives System, sondern gegen die beste Demokratie protestiert, die Deutschland bis dahin hatte. Und sie hat dies getan mit Bildern und Ideen von kommunistischen Massenmördern wie Mao und Pol Pot. [...]
Obwohl das arg nach modischem "'68er-Bashing" klingt: falsch ist das nicht. Die "''68er" werden meiner Ansicht nach überschätzt, im Positiven wie im Negativen. Es stimmt, es gab in den 60er und frühen 70er Jahren einen Demokratisierungsschub, aber diese Entwicklung weg vom "traditionellen deutschen Untertanengeist" begann spätestens mit der Spiegel-Affäre 1962. Meiner Ansicht nach unterlief den "'68ern" der klassischer Denkfehler des "Schwarz-Weiß"-Denkens: Weil die USA sich im Vietnamkrieg erkennbar ins Unrecht gesetzt hatten, die "Bösen" waren, musste Ho Chi Min, Befreiungskämpfer gegen die französische Kolonialherrschaft, später Premierminister und charismatische Führer Nordvietnams, automatisch "ein Guter" sein. Jeder Bombenangriff auf die zivile Infrastruktur Nordvietnams (unter dem zynischen Motto "Bombing them back into stone-age"), jeder von US-Truppen ermordete "Vietkong-Sympatisant", jeder völkerrechtswidrige Einsatz von chemischen Kampfstoffen usw. förderte das moralische Ansehen Hos (und in geringerem Ausmaße später das Pol Pots).
Noch drastischer ist der Effekt bei Mao - die VR China schien eine Alternative zum Kapitalismus nach US-Vorbild und zum Kasernenhofkommunismus nach dem Muster der UdSSR zu sein. Da nur wenig über die tatsächliche (katastrophalen) Verhältnisse in China bekannt war, konnte sich der "Mao-Kult" unter westlichen Linken halten. Sein radikales Vorgehen gegen die "Bürgerlichen" während der Kulturrevolution kam der Rebellionsromantik der "'68er" entgegen. Später wollten viele Mao-Fans die schreckliche Wahrheit - mindestens 44 Millionen Menschen verloren wegen seiner Politik ihr Leben - nicht wahr haben.
Man muss der Wahrheit ins Auge blicken: Bürgerrechtler sind in keiner Partei beliebt. Sie sind zu unabhängig und nicht geneigt, Parteisoldaten zu werden. Das verlangt aber mehr oder weniger jede Partei. [...]
Da gebe ich Frau Lengsfeld voll und ganz recht!
FOCUS Online: Der große Störenfried in diesem Jahr hieß Thilo Sarrazin. Was verrät uns die Debatte um seine Person über den Geisteszustand der Republik im Jahre 2010?
Lengsfeld: Die Debatte hat gezeigt, wie groß die Kluft zwischen Politik und den meisten Medien und den Bürgern ist. Früher gab es die Einheitspartei. Heute soll anscheinend eine Einheitsmeinung hergestellt werden. Das wird nicht klappen. Eine ähnliche Diskrepanz zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung kenne ich nur aus der DDR der 80er-Jahre. Das Ergebnis ist bekannt.
Eine zwiespältige Antwort. Worin ich mit Frau Lengsfeld einer Meinung bin: die Diskrepanz zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung ist tatsächlich gewaltig. Die "klassischen Medien" sind sozusagen chronisch "Public Relation-verseucht" - und es gibt tatsächlich einen ziemlich engen "Konsenskorridor", in manchen Fragen fast schon eine Selbstgleichschaltung.
Zwiespältig ist die Antwort insofern sie ausgerechnet auf die Frage nach Thilo Sarrazin gegeben wurde. Denn Sarrazin hat keine neuen oder bislang verschwiegenen oder unterdrückten Tatsachen ans Licht gebracht - das Image des Mannes, der "unbequeme Wahrheiten" sagt, ist ein Medienkonstrukt. Er ist ein hemmungsloser Selbstdarsteller und Verkäufer seines Buches. Was an Sarrazins Aussagen wahr ist, ist nicht neu, und das, was neu ist, ist sozialdarwinistisch, sozialrassistisch, verlogen und arrogant.

Der Fall der Mauer und das Ende der DDR (das mit der Vereinigung zusammenfiel) war ein Sieg der Freiheit.
Leider wird von "Freiheit" gern in propagandistisch verzerrter Form geredet:
Die DDR folgte bereitwillig dem deterministischen Motto Lenins "Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit".
In der "alten Bundesrepublik" schafften es Forderungen nach mehr Freiheit vor allem dann in die Medien, wenn es um emotional aufgeladene Nebensächlichkeiten wie die "Freie Fahrt für freie Bürger" (gegen Tempolimits auf Autobahnen) ging.

Ich habe das üble Gefühl, dass das politische System Deutschlands, in dem nicht nur die Kanzlerin so gern das Wort "alternativlos" in dem Mund nimmt, 20 Jahre nach der Einheit die beiden verzerrten "Freiheitsbegriffe" vereinigt.

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