Donnerstag, 16. September 2010

Im Gedenken an eine Verteidigerin der "kleinen Sünden"

Wie "New York Times" am 13. September berichtete, starb vor kurzem die (außer bei Puritanern und Gesundheits-Fanatikern) beliebte us-amerikanische Schriftstellerin Barbara Holland - "Barbara Holland, Defender of Small Vices, Dies at 77"
“Joy has been leaking out of our life. We have let the new Puritans take over, spreading a layer of foreboding across the land until even ignorant small children rarely laugh anymore. Pain has become nobler than pleasure; work, however foolish or futile, nobler than play; and denying ourselves even the most harmless delights marks the suitably somber outlook on life.”
Die Freude ist aus unserem Leben entwichen. Wir ließen die neuen Puritaner an die Macht kommen, die eine Decke der Drohungen über das Land legen, bis sogar unwissende kleine Kindern nur noch selten lachen. Schmerz wurde edler als Vergnügen; Arbeit, selbst dumme oder sinnlose, edler als das Spiel; und dass wir uns sogar die harmlosesten Freuden versagen kennzeichnet die angemessene düstere Lebensanschauung.
Sie hat leider so recht, nicht nur für die USA, sondern vielleicht mehr noch für Deutschland. Zwar ist die puritanische fixe Idee, dass Genuss Sünde sei, hierzulande nicht so weit verbreitet wie im Mutterland des modernen Puritanismus, aber Vorwürfe an Kranke, sie seien doch "selber schuld" und schadeten so der Gemeinschaft, machen das ohne weiteres wett. Wie in den USA herrscht bei uns (auch in den katholischen Gegenden) eine "protestantische Ethik" im Sinne von Webers Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus vor:
„Erwerb von Geld und immer mehr Geld, unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens, so gänzlich aller eudämonistischen [glückseligen] oder gar hedonistischen [lustorientierten] Gesichtspunkten entkleidet, so rein als Selbstzweck gedacht, dass es als etwas gegenüber dem ‚Glück‘ oder dem ‚Nutzen‘ des einzelnen Individuums jedenfalls gänzlich Transzendentes und schlechthin Irrationales erscheint“
Warum gewinnt diese in mancherlei Hinsicht fragwürdige "Ethik des Geizes" wieder an Boden, obwohl in den vom Massenkonsum geprägten kapitalistischen Gesellschaften in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ein gemäßigter Hedonismus durchaus gesellschaftsfähig war und zum Teil noch ist? Vereinfacht lässt sich sagen, dass die protestantische Ethik die klassische kapitalistische Gesellschaft ermöglichte. Umgekehrt begünstigt eine Rückkehr zu "klassisch kapitalistischen Verhältnissen" - also: strickte Klassengrenzen, "industrielle Reservearmeen", mit deren Hilfe Löhne gedrückt werden, Abbau des staatlichen und gemeinwirtschaftlichen Sektors, "Herr im Haus"-Politik der Kapitalisten, "Reproletarisierung" der Unterschicht usw. - auch die sie legitimierende Ideologie: die "protestantische Ethik" im Sinne Webers (deren extremste Form der vom Calvinismus abgeleitete "moderne Puritanismus"ist).
Ein weiterer Faktor, der den religiös begründeten Puritanismus (der sich auch bei Katholiken finden lässt) erstarken lässt, ist die Gegnerschaft zum Islam. "Dem Islam" bzw. dem neopuritanischen Zerrbild des Islams mangelt es an der nötigen Arbeitsethik. Aber dafür hätte "der Islam" andere Tugenden, die der "dekadente Westen" nicht mehr hätte: Opferbereitschaft, unbedingte Loyalität, Familiensinn, die Bereitschaft, viele Kinder aufzuziehen, und (selten offen ausgesprochen) eine Ordnung, die Frauen, Schwule, "Säufer", "Asoziale" "an ihren Platz" weist. Der Islam hat also alle "Tugenden", die einst "das christliche Abendland" stark gemacht hätten, bis auf die Arbeitsethik, hingegen hätte das Abendland von seinen "alten Tugenden" fast nur die Arbeitsethik behalten, und auch mit der ginge es bergab. (Von den "Sieben Todsünden" würde "die Moderne" alle bis auf die Faulheit "freudig umarmen".)
Folgerung: damit die "Musels" uns nicht erobern, müssen "wir" wieder so werden, wie die westlichen Industrienationen mal im 19. Jahrhundert gewesen waren (zumindest in der Vorstellungswelt der neuen Puritaner).

Wie das in der Praxis bei den heute Heranwachsenden funktioniert, lässt sich an der neuesten Shell-Studie und an der Rheingold-Studie ablesen, die sich hinsichtlich der Ergebnisse wenig unterscheiden - die Interpretation ist drastisch verschieden: wenn die Shell-Studie die Jugend als optimistisch und pragmatisch schildert, schilde die Rheingold-Studie sie als angstvoll und ungeheuer anpassungswillig. Beiden Studien zufolge gewinnt eine konservative, im Kern protestantische Ethik, verbunden mit neospießigem Verhalten, unter den jungen Leuten an Boden. Aus Panik angepasst und unter Selbstkontrolle (telepolis).

Zurück zu Barbara Holland. Sie trank mit Lust Alkohol und qualmte wie ein Schlot. "Natürlich" starb sie an Lungenkrebs - aber mit 77 kann das sogar abstinenten Nichtrauchern blühen.
Zwar möchte ich sie nicht als Vorbild darstellen. Rauchen ist nicht nur extrem ungesund, sondern ein höchst unbefriedigendes Laster, weshalb ich es mir abgewöhnte. (Ich war zwar nur "Genussraucher" - abends mal ´ne Pfeife zur Entspannung - aber irgendwann merkte ich dann auch tagsüber den "Nikotinjieper" - sicheres Zeichen, dass es Zeit war, aufzuhören.) Ich denke aber nicht daran, meinen (mäßigen) Alkoholkonsum und meinen (seltenen) Gebrauch anderer Drogen einzustellen.

Nichts gegen Sport - solange er Spaß macht. Nichts gegen gesunde Ernährung - aber gut schmecken muss sie schon.
Ein viel erstrebenswerteres und wie ich finde, gesünderes, Ideal als das der Askese ist die Mäßigung, das Einhalten der "rechten Maßes".

Es ist immer ein Alarmzeichen, wenn die kleinen Sünden mit großen Aufwand bekämpft werden.

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