Sonntag, 13. Juni 2010

Die "Splitterbombe" und der gesunde Menschenverstand

Bei der Demonstration "Wir zahlen nicht für Eure Krise" gegen den Sozialabbau in Berlin am 12. Juni 2010 gab es offensichtlich eine Explosion, die wohl deutlich stärker als die eines Böllers war. (You Tube Video der Explosion, übrigens aus irgendeinem Grund auf "ab 18" gestellt.)

Laut Tagesspiegel und rbb wurden dabei zwei Polizisten so schwer verletzt, dass sie im Krankenhaus operiert werden mussten.

Ich war nicht dabei, und kann nur aufgrund des Videos und einiger Augenzeugenberichte (z. B. hier bei annalist )mutmaßen, was da geschah.

Eines ist aber offensichtlich: es war keine "Splitterbombe", wie es z. B. hier behauptet wird: 15 Berliner Polizisten durch Splitterbombe verletzt (t-online).
Splitterbombe? Sogar in der t-online-Meldung stand ausdrücklich, dass es sich nach Angaben eines Polizeisprechers um einen selbst gebauten Sprengsatz, der möglicherweise mit Nägeln oder Glasscherben gefüllt war, handeln würde. Wenn das stimmt, ist es ekelhaft genug, aber bei weitem keine Splitterbombe. Wäre da auch nur eine improvisierte Splitterbombe detoniert, hätte es unweigerlich Tote und zahlreiche Schwerverletzte gegeben.
Auch das Video macht auf mich nicht den Eindruck, dass die Explosion von einem regelrechten Sprengsatz stammen würde. (Wenn ich "Sprengsatz" höre, denke ich erst mal an etwas mit der ungefähren Wirkung einer Handgranate.) Die Menschen, die auf dem Video zu sehen sind, hätte sicher panischer reagiert, wenn es dort eine wirklich schwere Explosion - womöglich mit Splitterwirkung - gegeben hätte.

Damit will ich nichts verniedlichen - so ein wahrscheinlich selbstgebauter "Riesenböller" ist eine üble Sache, und, wie die Verletzten zeigen, alles andere als harmlos. Aber schon für die von der Polizei vermuteten möglichen Nägel oder Glassplitter gibt es bisher keinen Beleg. Auch das die Tatverdächtigen noch in der selben Nacht wieder frei gelassen wurden, spricht aller Erfahrung nach eher gegen so eine "Höllenmaschine".

Es fehlt, ohne die Gewaltbereitschaft des "Schwarzen Blocks" kleinzureden, auch jedes Motiv dafür, einen potenziell tödlichen Sprengsatz auf Polizisten zu werfen. Für so dämlich halte ich selbst testosteronbefeuerte Randalefreaks, die sich aus irgend einem Grunde für "poltisch" und "links" halten, nicht.

Es gibt aber sehr wohl ein Motiv, die "Bombensache" medial hochzukochen.
Wie annalist schrieb:
Und jetzt sollen Linke in einer Demo durch eine 'Explosion', 'explodierende Wurfkörper' oder einen 'Splittersprengsatz' PolizistInnen verletzt haben? Es fällt mir schwer, mir das vorzustellen. Es passt allerdings hervorragend ins Bild der gemeingefährlichen Linksextremisten.
Meine Ansicht: Wenn Medien von einer "Splitterbombe" berichten, betreiben sie damit ganz üble Hetze.

Allerdings halte ich auch annalists Vergleich mit der berüchtigten (und mittlerweile bewiesenen) Strategie der Spannung für übertrieben. In den 1970er Jahren gab es in Italien eine Reihe inszenierter terroristischer Aktivitäten, die "linken Terroristen" in die Schuhe geschoben wurden. Wie sich später herausstellte, waren die wirklichen Attentäter italienische Geheimdienste, aber auch Rechtsextremisten, die NATO/CIA-Geheimorganisation Gladio und die "Geheimloge" Propaganda Due (P2). Zweck der oberflächlich an einen mittelmäßigen Verschwörungsthriller erinnernden Aktion war es, die öffentliche Meinung zu Ungunsten der politischen Linken zu manipulieren, und insbesondere die damals einflussreiche Kommunistische Partei Italiens in Misskredit zu bringen.

Auch der Vergleich mit anderen inszenierten Attentaten, etwa dem Celler Loch, ist übertrieben. Allenfalls lässt sich eine Parallele zu Fällen herstellen, in denen Provokateure, wie etwa während der Demos gegen den G8-Gipfel zu Gewalttaten animierten, die einen Vorwand für "hartes Durchgreifen" geliefert hätten. Aber wenn in Berlin Provokateure am Werk waren, dann gingen sie meines Erachtens ziemlich dilettantisch vor. Denn Provakateuren geht es normalerweise darum, eine friedliche "Latschdemo" zur "Zoff-Demo" oder gar zur Straßenschlacht "umkippen" zu lassen - und nicht um einen blutigen "Showeffekt", der schwerlich zum "Mitmachen" animiert.

Was bleibt:
Ein übler Eindruck, wie schnell und heftig selbst eher geringfügige Vorfälle dramatisiert werden. Auch "dank" eifrig mithetzender Medien.
Und ein Eindruck davon, wie groß die Angst vor dem "Druck der Straße" sein muss. Denn das Schreckgespenst eines immer schlimmer und immer brutaler werdenden Linksextremismus wird, denke ich, ja nicht von ungefähr aus der Mottenkiste geholt.
(Übrigens gab es allein im April mindestens 73 Verletzte durch rechtsextreme Gewalt. Auch wenn Nazi-Schläger ebenfalls für eine autoritäre Politik im Sinne eines Polizeistaates instrumentalisierbar sind, passen "Linke Gewalttäter" wohl besser ins Konzept. Hysterisch reagierende Linke sind in diesem Sinne nebenbei bemerkt ebenfalls "nützlich".)

Nachtrag, 14.06.: Hier nochmal das Video von der Explosion, bisher ohne Altersbeschränkung.

Laut fefe gingen bei ihm Mails ein, die die "Splitterbombe" als "Agitprop von Springer" entlarven:
Die Mails gehen von "ich hab da keinen Krankenwagen Polizisten abholen sehen" über "das würde ich als Law-and-Order-Innenminister genau so machen" bis hin zu "auf dem Video sieht man, dass das nur ein Böller war".
Mich stört übrigens, dass auch in serösen Medien von "Krawallmachern" die Rede ist. Wie viele Leute braucht man denn, um einen übergroßen Böller zu schmeißen?
Das bedeutet übrigens auch, dass es übertrieben ist, hinter diesem "Anschlag" eine "false flag operation" oder ähnliche Verschwörung zu vermuten. Ein durchgeknallter Spinner reicht bereits aus.

Sehr lesenswert: der ausfühliche Bericht des humanistischen pressedienstes von der Berliner Demonstration "Wir zahlen nicht für eure Krise". Darin heißt es zur "Bombe":
Hätten bei soviel Verletzten nicht Krankenwagen und Rettungshubschrauber auftauchen müssen? Ein einziger Krankenwagen war nach einiger Zeit zu hören und außer dem Überwachungshubschrauber war auch in der Luft nichts zu sehen.
Wenn tatsächlich so ein Blutbad angerichtet worden wäre, wieso konnte dann die Demonstration einfach so weiterziehen? Wieso wurde dann die Demonstration an dieser Stelle nicht aufgelöst (Bei so einem Vorkommnis nach unserem Dafürhalten ein wichtiger Grund!)?

Wieso findet bei der Rede des Organisators, der ständig in persönlichem Kontakt mit dem Verbindungsmann der Polizei stand, auf der Abschlußkundgebung dieser angeblich schwere Zwischenfall keine Erwähnung?

Wieso ist auf den unmittelbar aus der Nähe aufgenommenen Videos nichts zu sehen, außer dem Knall inmitten des Demonstrationszuges, der an dieser Stelle mit Polizisten vermischt war, und den Sprechchören ”Haut ab, haut ab!” und dann wird weiter demonstriert, als wäre nichts geschehen?

Wie auch immer: Auf jeden Fall wurde erreicht, dass die Demo in den Medien insgesamt in Misskredit gebracht wurde. Thema ist nur noch die sogenannte „Linke Gewalt”, statt der wichtigen Themen, weswegen die Menschen auf die Straße gegangen sind. Ist dies vielleicht Absicht?

Traurige Notlösung Mietspeicher

Nicht immer bin ich von den Blogbeiträgen "Don Alphonsos" angetan. Was übrigens nichts mit denen von "Don" vertretenen Ansichten zu tun hat, denn ich weiß, dass diese Kunstfigur sich deutlich von ihrem Schöpfer Rainer Meyer unterscheidet. Immerhin sind sind fast immer geistreich und amüsant, weshalb ich sie auch dann gerne lese, wenn ich mich über sie ärgere.

Vor einigen Tagen bloggte ich über den meiner Ansicht nach fehlenden Pragmatismus der Deutschen. Daran musste ich sofort denken, als "Don" eine Einrichtung vorstellte, von der man im ersten Moment annehmen könnte, sie sei eine pragmatische Lösung eines Problems: "Self Storage" - Lagerhäuser, die Lagerraum für Dinge bieten, deren Besitzer für sie im Moment keine Verwendung haben, von denen sie sich aber auch nicht trennen mögen.
Das Begräbnis der Dinge und der Bürgerlichkeit

Von einigen Ausnahmen abgesehen, ist diese scheinbar so praktische Lösung einigermaßen absurd: anders als im eigenen Keller oder Dachboden verursacht die Lagerung im gemieteten Speicher laufend Kosten. Dennoch gibt es offensichtlich Bedarf für solchen Speicher - etwa, weil die Lebensumstände es gar nicht zulassen, dauerhaft eine Wohnung mit Keller zu bewohnen. Ich könnte mir ohne Weiteres vorstellen, dass ich unter Umständen so einen Mietspeicher benutzen würde, um Dinge einzulagern, von denen ich mich nicht trennen möchte oder deren Verkauf und spätere Wiederbeschaffung mehr Kosten würde, als die Lagermiete ausmacht. Aber diese Umstände, die mich dazu veranlassen könnten, gefallen mir ganz und gar nicht. Da gebe ich Don recht:
Mein Platz, Dein Platz, sagt die Werbung, aber genau das Gegenteil ist der Fall, denn niemand, der es braucht, hat wirklich einen dauerhaften Platz im Leben. Niemand würde vermutlich aus freiem Willen so leben wollen, gleichzeitig von Dingen überfrachtet und ihnen trotzdem durch die Konsumgesellschaft ausgeliefert. Es sei denn, es laufen darin zwei dieser erstaunlichen Zivilisationsdeformationen der letzten Jahre zusammen: Der krankhafte Anhäufer, der aufgrund der Konsummöglichkeiten zuviel hat, um es noch zu kontrollieren. Und der internationale Bindungslose, der überall und immer gehen kann, der nie zu lange bleibt und immer die Option hat, verbrannte Erde zu hinterlassen, denn seine Freunde sind bei Facebook, seine Wohnung ist immer nur auf Zeit, seine Vergangenheit ein paar Zeilen in der Bewerbung und seine Zukunft ungewiss. Unbürgerlich ist beides, und beidem kann mit so einem Mietgrab der Gegenstände abgeholfen werden, denn der Besitz bleibt erhalten, und genauso die Bewegungsfreiheit. Beides können die Betroffenen hemmungslos ausleben, für ein paar Euro mehr, die man gerne bezahlt, wenn der nächste Job einen Gehaltssprung vorsieht. Es macht das Dasein sehr viel leichter, weniger Ballast erhöht die Beschleunigung noch etwas, und wenn der andere vielleicht noch überlegt, ob sich ein neuer Umzug lohnt, ist der Selbstwegspeicherer vielleicht schon im Flieger zu neuen Horizonten, wo er alles neu kauft.
Sicher ist diese Formulierung ungerecht gegenüber denen, die zur Mobilität und Flexibilität regelrecht gezwungen werden, die es sich nicht ausgesucht haben, "Arbeitsnomaden" zu sein.
Aber in was für einer Welt leben wir, in der die Instrumentalisierung und Selbst-Instrumentalisierung zu so im Grunde traurigen und absurden Lösungen führt?

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