Mittwoch, 9. Juni 2010

Pragmatismus (fehlender, in Deutschland)

Ein Nachtrag zur "Schwedischen Lösung". Darin schrieb ich:
Einer der auffälligsten Mentalitätsunterschiede ist der schwedische Pragmatismus. (Der Mangel an Pragmatismus mit der damit verbundenen Rechthaberei und Prinzipienreiterei scheint mir ein Gründübel der deutschen Gesellschaft zu sein, neben der immer noch wirksamen Untertanenmentalität. Aber das ist ein anderes Thema.)
Dass es in der deutschen Debattenkultur selbst Menschen mit pragmatischen politischen Zielen an Pragmatismus mangelt, fiel mir auf ziemlich drastische Weise auf, als ich den Lifestream vom Bundesparteitag der “Piratenpartei” verfolgte. Ich kannte erbitterte Debatten noch aus der Zeit, als die “Grünen” noch grün waren - oft auch hinter den Ohren - und sich nicht immer grün waren. Aber damals vermutete ich, das läge an den ideologisch verhärteten Fronten - "Fundis" gegen "Realos", Technikfans gegen Technikfeinde, Ökolibertäre gegen Öko-Autoritäre, "Neo-Hippies" gegen Öko-Spießer, Öko-Spirituelle gegen (knallhart materialistische) Öko-Linke usw, usw, usw. . (Oft bedaure ich, dass die bunten Chaotentruppe von damals zu einer "ganz normalen" Partei mit dem "ganz normalen" Parteizweck des Machterwerbs und -erhalts und sehr viel Opportunismus wurde.)

Solche Flügelkämpfe konnte ich bei den “Piraten” bisher nicht ausmachen - aber den unsäglichen, aufs Fertigmachen und Rechthaben gerichteten Debattenstil sehr wohl. Als Ursache sehe ich den fehlenden Pragmatismus. Was übrigens kein "Livestream-Artefakt" - es wirkt ja immer alles etwas chaotischer, wenn man nicht selbst dabei ist - zu sein scheint. Karan twitterte direkt vom Parteitag: "Könnte bitte mal jemand eine Runde Pragmatismus ausgeben?"
Ich kann mir so eine verkorkste Debatte in England oder Schweden irgendwie nicht vorstellen.

Mir fällt immer wieder auf, wie selten Streitgespräche im deutschen Sprachraum bei der Sache bleiben, ohne von einem Extrem ins andere zu taumeln. Meistens vermischt sich das mit heftigen ad personam-Attacken - und mit nicht weiter begründete negativen Werturteilen wie “das ist doch Scheiße”.

Ich habe den Verdacht, dass der "streitsüchtige, prinzipienreitende, besserwisserische" Deutsche kein reines Vorurteil ist. Wie oft das Klischee von der "deutschen Oberlehrermentalität" zutrifft, merkt man als Deutscher meistens erst, wenn man andere Mentalitäten kennengelernt hat.
Wir Deutschen neigen offensichtlich dazu, uns über andere zu erheben, indem wir sie erniedrigen. Mir fällt das im Interview-Stil auf: offensichtlich wird von deutschen Journalisten erwartet, dass sie in einem Interview jemanden richtig “fertigmachen”. Dem gegenüber steht der deutsche Brauch, ein Interview autorisieren zu lassen, vor allem, wenn “wichtige” Personen interviewt werden. Das heißt: aggressiv in der Form, unterwürfig-ängstlich in der Sache. Der gute “angelsächsiche” Journalismus macht’s genau anders herum. (Der schlechte “angelsächsische” Journalismus ist dafür meines Erachtens an Gehässigkeit kaum noch zu toppen, nicht mal von der “Bild”, die ja deutlich dem Vorbild der englischen Revolverblätter wie “Daily Mirror” oder “Sun” folgt.).

Woher der deutsche Mangel an Pragmatismus stammt, und weshalb pragmatische Politiker wie Helmut Schmidt in Deutschland die große Ausnahme sind (wobei Schmidt nebenbei bemerkt in seiner Oberlehrerhaftigkeit trotz Pragmatismus sehr "Klischeedeutsch" sein konnte), darüber gibt es zahllose Theorien. Es wäre wenig pragmatisch, ihnen allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken.

Die deutsche Rechthaber/Runterputzer-Mentalität, meiner Ansicht nach ein wesentlicher Grund für fehlenden Pragmatismus, stammt, wiederum nur nach meiner unmaßgeblichen Auffassung, vor allem aus der Angst vor Fehlern. (Die mich auch dazu bringt, so vorsichtig zu formulieren.)

Die Angst vor Fehlern ist im Kern, denke ich, die Angst davor, für einen Fehler gerade stehen zu müssen.
Die wiederum hängt wohl damit zusammen, dass jemand, der einen Fehler “begangen” hat (verräterischer Sprachgebrauch: man begeht ein Verbrechen!), in Deutschland oft und gern “fertiggemacht” wird.
Das war schon damals in der Schule so: es kam, hatte ich den Eindruck, eher darauf an, möglichst wenig Fehler zu machen, anstatt richtig gut zu sein.
(Der Ansatz des Fehlerzählens ist bei Diktaten und bei reinen Wissenstests angemessen, schon in Mathe sollte der Lösungsweg ebenso wichtig sein, wie das richtige Ergebnis.)
Später erlebte ich, dass bei fast allen Bewerbungen (und ich habe viele hinter mir!) mir hinsichtlich meiner “Schwachstellen” auf den Zahn gefühlt wurde, während eventuelle Stärken als “selbstverständlich” vorausgesetzt wurden.
Umgekehrt ist die Frage: “Was sind Ihre größten Stärken?” unter Bewerbern vielleicht noch mehr gefürchtet als die Frage: “Was sind Ihre größten Schwächen?”
Ich jedenfalls habe vor der Frage nach den Stärken mehr Angst. Meine Schwächen glaube ich zu kennen, ich weiß auch ungefähr, welche Schwächen ich einigermaßen gefahrlos in einem Vorstellungsgespräch zugeben kann. Aber die Stärken? Da bleibt es - auch bei mir - beim “Üblichen”, von dem ich weiß, dass es “gefragt” ist - Teamfähigkeit, Selbstständigkeit, Lernbereitschaft, Fleiß, usw. usw. “Kreativität” eher nicht.
Zu meinem Leidwesen habe ich schon einige Male erfahren müssen, wie wenig geachtet “kreative Spinner” selbst in der Werbung sind.
”Also, ich denke, Sie, als jemand mit kaufmännischer Ausbildung, könnten ein gutes Gegengewicht zu diesen kreativen Spinnern da im ersten Stock sein.”
Die vergesse ich nie, diese Verachtung in der Stimme eines Managers einer Werbe- und PR-Agentur gegenüber den Menschen, ohne die er weder Werbung noch PR machen könnte. Das sind eben Handlanger, deren Kreativität man sich einkauft. Aber ein IT-Kaufmann, der denkt nüchtern, sachlich - und dessen “Nüchternheit” und dessen “Pragmatismus” wird eben genau so eingekauft.
Wichtig sind allein die “Entscheider”, die “Ausführer” und ihre Fähigkeiten sind “Menschenmaterial”. Das ist wiederum recht pragmatisch, aber auf eine Weise, die ich nicht schätze.

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