Freitag, 11. September 2009

"Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie früher mal war"

Dieser Ausspruch, der schon vor Jahrzehnten wahrscheinlich von Karl Valentin geprägt wurde, fiel mir ein, als ich diesen Artikel auf "Telepolis" las: Die Zukunft für uns heute ist nur noch Bedrohung. Viele der Überlegungen und Einsichten des interviewten Historikers Philipp Blom sind bedenkenswert, obwohl praktisch nichts davon neu ist. Fast habe ich den Eindruck, dass Bloms Aussage:
Wir haben uns bereits musealisiert, und damit machen wir uns irrelevant.
auf ihn selbst gemünzt sein könnte. Oder allgemeiner formuliert: dass Blom sicher einiges zum aktuellen Zeitgeschehen sagen kann, man aber dabei nicht vergessen sollte, dass er als Historiker, also "rückwärts gewandter Prophet", bestenfalls Erfahrungswerte für künftige Entwicklungen angeben kann. Ich vermute, dass einer der wesentlichen Gründe für die heute weit verbreite "Angst vor der Zukunft" darin zu suchen ist, dass es für viele aktuelle Probleme keine historischen Präzedenzfälle, keine Erfahrungswerte gibt.
Diese Jahre um 1900 waren nicht nur eine Zeit voller Unsicherheit, sondern auch voller Zukunft; eine Zeit voller Utopien, voller Hoffnungen, voller Versuche, die Zukunft zu gestalten. Wir haben inzwischen gesehen, wie die meisten dieser Versuche in der Zwischenzeit tragisch an die Wand gefahren wurden. Aber es bedeutet auch, dass die Zukunft für uns heute nur noch Bedrohung ist.
Ich würde das positiver formulieren: Wir haben, auf die harte Tour, gelernt, dass utopisches Denken immer einen Zug ins Totalitäre hat. Faktisch laufen politische Utopien ja stets darauf hinaus, dass eine "perfekte Welt" sozusagen am Reißbrett entworfen wird, in der die Menschen dann plangemäß zu funktionieren haben. Notfalls postuliert man dann einen noch zu schaffenden "neuen Menschen", wenn die schöne utopische Gesellschaft mit real existierenden Menschen einfach nicht gelingen will. Das schmälert den Wert etwa der literarischen Utopien in keiner Weise. Oder den von Zukunftsvisionen. Nur misstrauen heute mehr Menschen "Patentrezepten", die man "nur" realisieren müsste, damit alle Menschheitsprobleme für immer gelöst wären. Aus gutem Grund.
Zukunft ist Verschlechterung, Zukunft ist Klimaerwärmung, Zukunft ist Zusammenbruch von Gesundheitssystemen, Zukunft ist Überfremdung, Zukunft ist, was auch immer Sie da reinsetzen wollen. Zukunft ist nie etwas Gutes.
Das hat meiner Ansicht nach nur am Rande mit dem Abschied vom "utopischen Denken" zu tun. An andere Stelle bemerkt er sehr richtig:
Heute, wenn jemand wagt, Utopist zu sein, dann heißt er Barack Obama, und verbindet das mit einer ausgesprochen pragmatischen Politik.
Etwas anderes wäre eher Tagträumerei als Politik - oder eben tendenziell totalitär. Ich bin ja der Ansicht, dass es so etwas wie "die Zukunft" gar nicht gibt. Es gibt allenfalls mögliche Entwicklungen. Weniger radikal, aber das selbe meinend, formulierte Karl Popper: "Die Zukunft ist offen". Die Zeit ist kein Eisenbahngleis, wir sind zu Fuß unterwegs und können daher Hindernissen ausweichen. Sogar einen drohenden Abgrund kann man, wenn man gut klettern kann, überwinden. Aber da wir zu Fuß gehen, können wir die Entwicklung nur stückweise beeinflussen. Das ist aber grundsätzlich eine optimistische Einstellung, so wie Obamas pragmatischen Vorstellungen von einer einer besseren Welt von einem Optimismus seiner Anhänger getragen werden, wie es ihn in den USA vielleicht seit den Tagen Präsident Kennedys nicht mehr gegeben hat.
Wenn "die Zukunft" nur noch aus Ängsten und Befürchtungen zu bestehen scheint, dann liegen die Ursachen dafür am wenigsten beim Verlust der "ganz großen" politischen Zukunftsentwürfe.

Etwas näher an die Gründe für den weit verbreiteten Pessimismus kommt meiner Ansicht nach ein Buch, dass vor Kurzem auf Spektrum.de besprochen wurde:
Wider den Katastrophen-Konsens. Es geht dabei um das Buch "Frohe Botschaften" von Dirk Maxeiner und Michael Miersch. Zwei Wissenschaftsjournalisten, die ich für etwa die Hälfte ihrer in diesem Buch zusammengefassten Kolumnen küssen könnte - und für fast alle anderen ohrfeigen.
Ich halte M & Ms Optimismus bei manchen Entwicklungen für doch zu rosa gefärbt, mag ihren "antigrünen" Polemiken nicht unbedingt beipflichten, und kann ihnen den Vorwurf nicht ersparen, dass z. B. ihre (durchaus berechtigte) Skepsis hinsichtlich der Gültigkeit von Klimaprognosen sie vom "Katastrophen-Konsens" ins andere Extrem kippen ließ: sie zeigen sich immer wieder als "Klimaskeptiker", die den menschlichen Einfluss auf's Klima als solchen kleinreden. Dennoch liege ich ihren Gedankengängen nicht ganz fern, wie z. B. mein 2005 verfasster Essay “Rachegöttin Natur” Apokalyptisches Denken in der Umweltbewegung verrät. (Interessanterweise trägt "Frohe Botschaften" das selbe Titelfoto, übrigens unabhängig voneinander - als ich meine Aufsatz schrieb, war das Buch noch nicht einmal geplant, umgekehrt ist es so gut wie ausgeschlossen, dass M & M meinen Essay und sein Titelbild kennen.)
M & M zufolge würden Moralaktivisten eine einmal begonnene Sache ohne Ansehen der Realität bis zum Ende durchziehen. Also ideologisches Denken, dass dem utopischen Denken mancher Endzeitpropheten von vor 100 Jahren gar nicht einmal unähnlich ist.
Weiter Gründe sind in dem tief in der abendländischen Kultur verankertem apokalyptischen Denken zu suchen. Dass das "Ende der Welt nahe" sei, haben selbst ausgemachte Atheisten "im Hinterkopf" - allerdings ohne den Glauben an einen gerechten Gott.

Ein weiterer Grund dürfte im Schulddenken und dem sich daraus ergebenden Prinzip der Schuldzuweisung zu suchen sein. Traurige Praxis ist das "Schwarze-Peter-Spiel", in dem jeder potentiell Verantwortliche auf den seiner Meinung nach "Schuldigen" verweist, ohne die Frage nach eigener Mitverantwortung zu stellen. (Inzwischen fließen weiterhin ungeklärte Abwässer in den Fluss, wird der Regenwald abgeholzt oder fahren kaum noch seetüchtige Tanker Rohöl über die Ozeane.) Ist dann ein Schuldiger, z. B. für einen Giftmüllskandal, gefunden, ist der Fall scheinbar erledigt – aber der Giftmüll ist damit noch nicht aus der Welt.
Mit der Erkenntnis, dass die ungehemmte Ausbeutung der Erde das Leben künftiger Generation gefährdet und dem vorherrschenden Denken in Kategorien der Schuld entstand die weltliche Vision des göttlichen Strafgerichts: Die Welt geht unter, die Menschheit wird vernichtet, und wir alle, zumindest wir alle in den Industrienationen sind daran Schuld! (Wenn alle Schuld haben, ist niemand verantwortlich, auch kein noch so skrupelloser Konzernmanager, Behördenchef, Politiker!)
Ein Faktor der Zukunftsangst ist sicherlich die "Aufmerksamkeitsökonomie" – nur schockierende Sensationen schaffen es noch in die Massenmedien, "nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten".

Ein ganz entscheidender Grund für die Angst vor "der Zukunft" ist schlicht und einfach Angstmache. Zu den Erfahrungen des letzten Jahrhunderts gehört auch die Erkenntnis, wie wirksam sich mit Angst Menschen manipulieren lassen. Wer Angst hat, muckt nicht auf.
Autoritär-obrigkeitsstaatliche "Lösungen" tatsächlicher oder vermeintlicher Probleme sind ohne Bedrohungen schier apokalyptischen Ausmaßes als "sinnstiftendem" Noch-nicht-Ereignis nicht zu vermitteln. Ich halte es nicht für einen Zufall, dass die Angst vor Kriminalität entgegen den Fakten (wie sie z. B. aus der Polizeilichen Kriminalstatistik ersichtlich sind), derart gesellschaftlich bestimmend ist. Wobei man sich vor dem Missverständnis hüten sollte, etwa angstmachende Politiker für kalt berechnende Manipulatoren zu halten. Gerade die "politischen Entscheider" werden von Ängsten geplagt. Die "wirksamsten" Angstmacher sind selber ängstlich. Was es weder besser macht, noch die Angstmacher entschuldigt.
Werden rostige Ideen aufpoliert zu neuem Glanz,
Und von Angst genährtes Gift in eure Köpfe eingepflanzt

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