Samstag, 17. Mai 2008

Was ist Ehre? Ist das Ehre?

Die Ehre ist, objektiv, die Meinung anderer von unserem Wert und subjektiv, unsere Furcht vor dieser Meinung.
Arthur Schopenhauer

Es gibt Bluttaten, bei denen ich mich innerlich weigere, zur "Tagesordnung" überzugehen. (Bei anderen Verbrechen widert es mich eher an, dass sie bis zum letzten Detail ausgewalzt und bis ins Intimste ausdiskutiert werden.)

Das Opfer, das ich hier wie die Presse Morsal O. nenne, obwohl ich ihren Familiennamen kenne, war eine 16-jährige Hamburger Schülerin, eine Deutsche afghanischer Herkunft. Sie war in Hamburg beinahe so etwas wie eine "kleine Berühmtheit", jedenfalls bei Menschen, die sich für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Kulturen interessieren. Vor eineinhalb Jahren erhielt Morsal O. einen Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung für ein Projekt, das respektvolles und freundliches Miteinander an ihrer Schule fördern sollte.

Der Tatort war ein Parkplatz am Lübeckertordamm im Stadtteil St. Georg, gleich beim Campus der Hochschule für angewandte Wissenschaften und ganz in der Nähe vom Allgemeinen Krankenhaus St. Georg, an einer viel befahrenen Straße und bei einer U-Bahn Station. Ich erwähne das auch, damit nicht wieder die Klischees vom "Ghetto" und vom "verschwiegenen Hinterhof" zuschlagen. Aber in erster Linie deshalb, weil der Täter offensichtlich zu seiner Tat stand - alle sollten es sehen.

Die Täter war ihr eigener Bruder. Ahmad O. (23) rief am Donnerstagabend seine Schwester an und bestellte sie zum Parkplatz. Der 23-Jährige kam in Begleitung eines Freundes. Als Morsal O. auf dem Parkplatz erschien, zog er sofort sein Messer.
Die Ärzte zählten später mindestens 20 Wunden.

Anwohner und Passanten hörten die verzweifelten Schreie des Mädchens und riefen die Polizei. Als der Notarzt den Tatort erreichte (es kann sich nur um wenige Minuten gehandelt haben, sowohl ein großes Krankenhaus wie die Hauptfeuerwache befinden nur wenige hundert Meter entfernt) waren Ahmad O. und sein Freund bereits geflüchtet. Gut eine Stunde versuchten die Helfer, die 16-Jährige zu reanimieren - vergeblich. Kurz nach dem Mord stellte sich der Begleiter des Täters auf einer Polizeiwache. Er war offenbar nicht in das Vorhaben seines Freundes eingeweiht. Schockiert erzählte er den Beamten, wer der Täter war. Als Ahmad O. festgenommen wurde, leistete er keinen Widerstand und gestand die Tat. Aus dem Motiv machte er keinen Hehl, er gestand seine Schwester getötet zu haben, weil sie sich "von der Familie abgewandt" habe.
Hamburger Abendblatt: Sie wollte Freiheit - und musste dafür sterben

Das Motiv: "Ehrenmord". Was bei "Islamophoben" und selbsternannten Hütern des christlichen Abendlandes erwartungsgemäß die entsprechenden "Beissreflexe" auslöst. Andere verweisen auf die "archaischen Stammesgesetze" des wilden Afghanistans.
Sie vergessen: Verbrechen im Namen der "Ehre" geschehen in nahezu allen Teilen der Welt und in allen soziokulturellen Milieus. Sie sind laut der Menschenrechtsorganisation "Amnesty International" kein religiöses Phänomen, obwohl sie häufig in islamischen Ländern begangen werden. Auch in vielen anderen Ländern kommen solche Verbrechen vor, etwa in Brasilien, Ecuador oder sogar in Italien. Auf den Koran können sich "Ehrenmörder" nicht berufen, ebenso wenig wie auf die Bibel.
Entgegen einem anderen Klischee hat Ahmad O. wahrscheinlich nicht mit Wissen der Familie gehandelt, sozusagen als "Vollstrecker des Familienwillens".

Der Bluttat ging ein langer Streit mit der Familie voraus. Morsal O. hatte sie auf eigenen Wunsch verlassen. Sie fühlte sich als Deutsche - die sie seit fünf Jahren je auch war.
Sie kam auf die strengen, patriarchalischen Sitten ihrer Familie nicht mehr klar - und ihr großer Bruder kam, so sieht es aus, auf die Emanzipation seiner Schwester von dieser Familientradition nicht klar.
Das Mädchen suchte Hilfe bei mehreren Sozialeinrichtungen. Doch die völlige Abkehr von der Familie, die vor 13 Jahren aus Afghanistan nach Deutschland kam, gelang ihr nicht. Zuletzt lebte sie im offenen Jugendhaus Feuerbergstraße.

Offenbar sah ihr Bruder Ahmad O. deshalb die Ehre der Familie verletzt. Noch vor Kurzem hatte das Mädchen ihn angezeigt, weil er es zusammengeschlagen hatte. Bei der Verhandlung verweigerte sie allerdings die Aussage. Der gewalttätige Bruder konnte deshalb nicht zu einer Haftstrafe verurteilt werden.
Es war nicht das erste Mal, dass gegen ihn ermittelt wurde. Ahmad O. ist als "Intensivtäter" polizeibekannt, mehrmals ermittelte die Kripo wegen Körperverletzung gegen ihn, auch Urteile gab es.

Was ist Ehre? Einfach gesagt: die Konsequenz aus dem Zusammengehörigkeitsgefühl. ("Alle für einen, einer für alle!")
Wird seine Gemeinschaft (Familie, Fanclub, militärische Einheit, Heimatdorf, Religionsgemeinschaft usw. usw.) missachtet, wird der Einzelne getroffen, durch Missachtung des Einzelnen wird seine Gemeinschaft getroffen. (Wenn ich hier die männliche Sprachform benutze, dann heißt das für mich nicht, dass "Ehre" ein in erster Linie "männliches Prinzip" oder gar ein "patriarchalisches Konstrukt" sei.)
Die "persönliche Ehre" beruht, da stimme ich Schopenhauer zu, auf dem Ansehen des Einzelnen in den Gemeinschaften, denen er angehört, und der Gesellschaft, in der er sich bewegt. Sie überschneidet sich mit dem "guten Ruf".

Der "Verlust der Ehre", der "Gesichtsverlust", ist der Verlust von Ansehen innerhalb der Gemeinschaft oder der Gesellschaft.

Es heißt manchmal, dass "verletzte Ehre" in Kulturkreisen, in denen das Ansehen eines familiären, ethnischen oder religiösen Kollektivs über den Wert des Einzelnen gestellt würde, unter offener Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien auf gewaltsame Weise "wiederhergestellt" würde - als Rache, Selbstjustiz oder Ehrenmord. Der Begriff etwa der "Familenehre" stünde dem staatlichen Gewaltmonopol entgegen. Daraus könnte man schließen, dass ein ausgeprägter "Ehrenbegriff" unweigerlich zu zahlreichen, rasch eskalierenden Konflikten führt.

Schon ein Blick in unsere eigene ("abendländische") Kultur zeigt, dass das nicht der Fall ist. Ein intakter "Ehrbegriff" - in Verbindung mit einem Gefühl für persönliche "Würde" - kann sogar Konflikte verhindern. Kommt noch ein intaktes Selbstbewusstsein hinzu, verhindert das Bewusstsein für Ehre und Würde das Gefühl "dauernden Beleidigtseins", das so anfällig für Provokationen macht. Angriffe aus Zorn, Neid oder Unwissenheit werden ignoriert, "tuen wir so, als hätte wir es nicht bemerkt" - oder: "was kümmert es die Eiche, wenn eine Sau sich an ihr kratzt" und bestimmte Menschen ("niederer Gesellschaftsschicht" oder Fremde) gelten den Ehrenregeln ohnehin nicht unterworfen, als "nicht satisfaktionsfähig", wie es früher im Adel hieß. Ist aber das Selbstbewusstsein schwach und der "Ehrbegriff" unklar, dann ist die "Ehre" oft nur noch Vorwand, jede Verletzung, Beleidigung oder Missachtung maximal zu "vergelten".

Die Ehre kann auch dazu beitragen, Konflikte zwischen Personen, Gemeinschaften oder Institutionen ohne Gewaltanwendung auszutragen. Gerade in den Stammeskulturen, auf die viele "Abendländer" so hochnäsig herabblicken, wird bei Streitfällen sorgfältig darauf geachtet, offenen Streit möglichst zu vermeiden oder zu verschleiern, da ein offener Streit einen Ehrverlust des Gegners zur Folge haben könnte.
In Stammeskulturen ist man sich des Eskalationspotenzials von "Ehrenhändel" durchaus bewusst. Ein buchstäblich lebensgefährliche Potenzial birgt die Blutrache, weshalb zu den frühesten und heiligsten Gesetze (geschrieben und ungeschrieben) Vorschriften gehören, die verhindern, dass gegenseitige Rache eskaliert. Das oft missverstandene biblische "Auge um Auge, Zahn um Zahn" ist eine Vorschrift gegen die Eskalation - Entschädigung oder Rache müssen dem Anlass angemessen sein, dass heißt, es darf ein ausgeschlagener Zahn nur mit dem Gegenwert eines Zahnes vergolten werden, nicht etwa mit dem Leben.
Noch älter und in vielen Stammeskulturen noch heute zu finden ist das "Wergeld" (von althochdeutsch "wer" = "Mann"). Es ist eine Entschädigung, die an jene ausgezahlt wird, die sonst die Blutrache an einem Totschläger hätten ausüben müssen, in der Regel an nächsten Verwandten. Diese Regelung auf Schadenersatz kann auch auf andere Vergehen angewandt werden. Besonders das germanische Volksrecht unterschied dabei sorgfältig zwischen "Totschlägern" (ohne Heimtücke - also auch Tötung im Kampf oder im Duell) und "heimtückischen Mördern", die als "feig", also ehrlos, galten.

Weil man sich in Stammeskulturen darüber im Klaren ist, wie leicht Streit in Ehrensachen eskalieren kann, wird darauf geachtet, dass der Konflikt so ausgetragen wird, dass beide Seiten "das Gesicht wahren" können. Eine dieser Möglichkeiten ist das Duell, dass man nicht in jedem Fall als "Überbleibsel aus Zeiten vor dem staatlichen Gewaltmonopol" abtun sollte. Die Sitte, dass bei einem Streit um die Ehre in der Öffentlichkeit die Kontrahenten "vor die Tür" gehen, und die Sache "unter sich" austragen, verdeutlicht das: der Konflikt bleibt auf die Kontrahenten begrenzt, ihre jeweilige Gemeinschaft und deren Ehre ist nicht betroffen, und die Kontrahenten unterwerfen sich Regeln, die eine Eskalation, etwa zum bewaffneten Kampf oder zur Massenschlägerei, ausschließen.

Zurück zum Fall des "Ehrenmordes". Meiner Ansicht nach ging es bei dieser Bluttat weniger um die "Familienehre", als um verletzten Stolz und das Gefühl des "großen Bruders", ihm würden "traditionelle Vorrechte" verweigert werden. Außerdem scheint er zu jenen Menschen zu gehören, die Konflikte gerne mit offener Gewalt austragen - aus Gründen, die wahrscheinlich nicht in der traditionellen afghanischen Familie begründet liegen. Wie ich weiter oben schrieb, ist bei schwachem Selbstbewusstsein und unklarem Ehrbegriff die "Ehre" oft nur noch Vorwand, jede Verletzung, Beleidigung oder Missachtung zu "rächen".
(Wobei ich hier nicht aus "Multikulti"-Romantik der aus Afghanistan stammende Familie einen "Opferstatus" oder gar aus ihre Situation bedingte "Sonderrechte" zubilligen will. Sie muss akzeptieren, dass Selbstjustiz hierzulande nicht als ehrenwert gilt, und dass es zur persönlichen Ehre einer Frau gehört, sich für ihre Rechte einzusetzen.)
Wer die Familienehre dagegen hoch hielt, dass ist das Opfer, Morsal O. . Sie blieb ihrer Familie gegenüber loyal, als sie die Möglichkeit hatte, durch ihre Aussage ihren Bruder hinter Gitter zu bringen. Sie versuchte offensichtlich, einen klaren Schnitt zwischen sich und ihrer Familien und ihren streng patriarchalische "Gesetzen" zu machen - und damit, beabsichtigt oder nicht, ihrer Familie die "Schande" einer rebellischen Tochter zu ersparen.

Update, 19. 05:
Einen Einblick in den Hintergrund des "Ehrenmordes" gibt dieser Artikel, der heute im "Hamburger Abendblatt" erschien: Er nahm sich alle Freiheiten - Sie musste für ihre sterben.
Es sieht so als, als ob die Haltung der Familie entgegen meiner Annahme für die Bluttat entscheidend war - zwar nicht im Sinne einer Mittäterschaft, aber doch in dem Sinne, dass Ahmad O. das Gefühl haben konnte, völlig im Sinne der Familie zu handeln.
Nebenbei sieht es so aus, als ob religöse Motive oder ein "stammesgesellschaftlicher" Begriff von Familienehre keine Rolle spielten, extrem patriarchalisches Denken, sprich massiver Männlichkeitswahn, eine große:
Die Nachbarn von Ahmad O. an der Hammerbrookstraße haben von dessen Leben mehr mitbekommen. Denn er genoss in vollen Zügen die Freiheiten, die er seiner Schwester verbieten wollte. Er trieb sich in Bordellen herum, feierte wild, trank exzessiv. "Seine Fahne konnte ich riechen", sagt eine Nachbarin. Sie wollte sich bei Ahmad O. wegen des ständigen Lärms beschweren. Seine Reaktion: "Halt die Klappe. Mit Frauen rede ich nicht."
Nicht gerade der Lebenswandel eines frommen Moslems ... und auch nicht gerade typisch für einen "Mann von Ehre".

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Geheimauftrag MARIA STUART...
Krisenfall Meuterei Der dritte Roman der Reihe "Geheimauftrag...
MMarheinecke - 9. Apr, 19:42
Urlaubs-... Bräune
Das "Coppertone Girl", Symbol der Sonnenkosmetik-Marke...
MMarheinecke - 1. Aug, 08:34
Geheimauftrag MARIA STUART...
Ahoi, gerade frisch mit dem Postschiff eingetoffen. Der...
MMarheinecke - 26. Mär, 06:48
Kleine Korrektur. Man...
Kleine Korrektur. Man kann/sollte versuchen die Brille...
creezy - 11. Nov, 11:29
strukturell antisemitisch
Inhaltlich stimme ich Deinem Text zwar zu, aber den...
dummerle - 5. Jun, 11:12

Suche

 

Status

Online seit 6714 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:08

Credits


doof-aber-gut
Gedankenfutter
Geschichte
Geschichte der Technik
Hartz IV
Kulturelles
Medien, Lobby & PR
Medizin
Persönliches
Politisches
Religion, Magie, Mythen
Überwachungsgesellschaft
Umwelt
Wirtschaft
Wissenschaft & Technik
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren